Justiz:Lob der Langsamkeit

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Weil am Berliner Kammergericht die Akten immer noch aus Papier sind, widersteht es jetzt einem fatalen Computervirus.

Von Verena Mayer

Wenn es in den Büchern von Franz Kafka besonders absurd wird, geht es meistens um Gerichte. Für Kafka sind sie Orte, an denen der Apparat eine solche Eigendynamik hat, dass er für den Menschen nicht mehr zu beherrschen ist. Kafkas Fantasien sind nun in der Hauptstadt Realität geworden, genauer gesagt am Kammergericht, dem höchsten ordentlichen Gericht in Berlin. Seit Ende September ein Computervirus festgestellt wurde, befindet sich das Gericht im Ausnahmezustand.

Begonnen hat alles damit, dass jemand eine E-Mail öffnete, in der sich der Trojaner Emotet verbarg. Der gilt als besonders gefährlich, weil er sich über authentisch aussehende Nachrichten verbreitet, sich im System festsetzt und selbst die Hardware unbrauchbar macht. So auch am Kammergericht. Computer mussten vom Netz genommen werden oder waren auf einen Schlag nicht mehr zu benutzen. Wer das Gericht erreichen wollte, musste anrufen, ein Fax schicken oder persönlich vorsprechen.

Wie am Mittwoch im Rechtsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses herauskam, ist das System bis heute nicht wiederhergestellt. Das liegt unter anderem an der Ausstattung der Berliner Justiz. Wer schon einmal an einem Berliner Gericht war, weiß, dass sich manches Gebäude gut für eine historisch korrekte Kafka-Verfilmung eignen würde. Das Kammergericht gilt als besonders altmodisch. Das Computer-Betriebssystem heißt noch Windows 95, eine Dienstvereinbarung zur IT-Sicherheit stammt, wie der Kammergerichtspräsident dem Tagesspiegel sagte, aus dem Jahr 2006.

Das alles könnte man als typische Berliner Posse belächeln, hätte der Vorfall nicht einen ernsten Hintergrund. Denn am Kammergericht wurde einmal mehr klar, wie anfällig Behörden und Organisationen für Schadsoftware sind und wie schnell durch Hackerangriffe ganze Verwaltungen lahmgelegt werden können. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) beobachtet schon seit Längerem, dass die Fallzahlen ansteigen und Unternehmen und Kommunen wirtschaftlichen Schaden erleiden.

Bis am Berliner Kammergericht ein neues System aufgesetzt ist, müssen die Richterinnen und Richter sowie die Geschäftsstellen improvisieren, die Justiz muss ja weiter arbeiten. Auf 60 sogenannten Notfall-PCs kann man inzwischen wieder online gehen, oder man wählt sich in die juristischen Datenbanken über das Handy ein. Wie ein Sprecher des Kammergerichts sagt, werde zudem die Bibliothek verstärkt genutzt, und wenn bestimmte Formulare auszufüllen sind, heißt es eben: Text ausschneiden, auf das Formular kleben und kopieren.

Möglicherweise ist es genau der Berliner Umgang mit der Verwaltung, der die Justiz nun vor dem Kollaps bewahrt. Denn bei der Umstellung auf die elektronische Akte, die bis 2026 bundesweit Standard sein soll, ist die Hauptstadt nicht gerade vorgeprescht. Nur einige wenige Berliner Gerichte sind bislang digitalisiert. Am Kammergericht sind die Akten jedenfalls noch immer aus Papier, und die Bürokratie kann weiter ihren Gang gehen, so klassisch wie in den Büchern von Franz Kafka.

© SZ vom 02.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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