Sattgrün stehen sie da, die Berge. Ihre Gipfel verschwinden unter grauen Wolken, die aussehen wie hin getupft. Unten glitzert der See. Ein Bild für das Urlaubsalbum. Die Welt da draußen mit ihren Krisen und Kriegen ist hier in Kochel am See, eine Zugstunde von München entfernt, weit weg. Der Handyempfang ist mittelmäßig. Schnell mal Nachrichten lesen, geht hier nicht.
Plötzlich steht da Christian. Ein breitschultriger Kerl, der sagt: "Die Ukraine wird sich spalten - in Ost und West." An den Finger zählt er die Gründe auf: "Putin will eine Pufferzone zu den Nato-Staaten, der ukrainische Präsident Poroschenko hätte dann großen Einfluss im Westen und die Europäische Union könnte so das Land noch enger an sich binden." Bäm. Da ist sie wieder, die ganz große Politik.
Eine Gruppe von zehn Leuten sitzt im Halbkreis vor Christian und hört ihm zu. Einige sind Deutsche wie er. Andere kommen aus Russland oder Polen. Als der 26-Jährige fertig ist, beginnt eine Diskussion, in der wiederholt anklagend von "den Russen" gesprochen wird und die sogar die Moderatorin, eine Ukrainerin, die Beherrschung verlieren lässt. Die folgenden anderthalb Stunden sind beispielhaft dafür, wie schwierig der Dialog zwischen Deutschen, Polen und Russen angesichts des Ukraine-Konflikts geworden ist - selbst wenn er gefördert wird.
Annäherung durch Diskussion beim trilateralen Jugendforum
Vor einem Jahr entstand in Warschau das trilaterale Jugendforum. Zu den Organisatoren gehört das Deutsch-Russische Jugendparlament, die Warschauer Universität sowie die Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien. Jährlich wollen sie für eine Woche junge Menschen aus Polen, Deutschland und Russland zusammenbringen, die mit Experten über die Beziehungen diskutieren. Gleichzeitig sollen sie länderübergreifende Projekte erarbeiten. "Bisher gab es vor allem entsprechende Angebote für Deutsche und Russen oder Polen und Deutsche - so fühlte sich immer eine Partei ausgeschlossen", sagt Fabian Burkhardt, Koordinator des diesjährigen trilateralen Jugendforums.
Der 29-Jährige ist davon überzeugt: Wenn die Dreiecksbeziehung zwischen Polen, Russland und Deutschland funktioniert, dann gibt es auch keine Spannungen mehr in Europa. Die bessere Vernetzung soll dabei helfen. 2013 sah es auch gut aus. Vor Beginn der Protese in Kiew gab es zwischen den drei Ländern keine nennenswerten Probleme. Polen und Russland begannen sogar, sich anzunähern. "Das war ein Kinderspiel im Vergleich zu diesem Jahr", sagt Burkhardt.
2014 findet das trilaterale Forum größtenteils in München statt. Angesichts der aktuellen Entwicklungen liegt der Schwerpunkt bei den Vorträgen und Diskussionsrunden auf den Spannungen zwischen den Ländern. Das stellt die Organisatoren vor Probleme. Obwohl Fabian Burkhardt und sein Team für die Finanzierung verstärkt bei Unternehmen nachfragten, konnten sie keinen Vertreter aus der Wirtschaft gewinnen. In einer Zeit, in der sich deutsche Investoren verstärkt aus Russland zurückziehen würden, herrsche Unsicherheit, sagt Burkhardt.
Dann gab es interne Diskussionen bei der Auswahl der Teilnehmer. Insgesamt sind es 30. Besonders bei den Vertretern aus Russland stellte sich die Frage: Sollen sie liberal sein oder eher die Einstellung der russischen Mehrheit repräsentieren, die Putins Kurs in der Ukraine unterstützt? "Dabei geht es ja auch darum an die Zukunft zu denken. Wollen wir jemandem einladen, mit dem man diskutieren und später zusammenarbeiten kann oder nicht", sagt der Koordinator.
Vor einem ähnlichen Problem standen die Organisatoren bei der Auswahl von Experten und Moderatoren für die einwöchige Veranstaltung. "Bei dem Thema Ukraine gibt es ja nur noch Entweder-oder. Wenn du dich für eine Person entscheidest, entscheidest du dich auch für deren Weltanschauung. Die passt dann aber wieder einer anderen Person nicht", sagt Burkhardt. Zwei Referenten haben aus Protest abgesagt.
Die Weltanschauung von Irina Solonenko spielt in ihrem Workshop eine sehr große Rolle. Während andere Gruppen über Weißrussland und den Kaukasus sprechen, moderiert sie die Diskussion zur Ukraine. Die 37-Jährige kommt aus Kiew, lebt aber in Berlin. Sie hat die dortige Euromaidan-Bewegung mit aufgebaut. In den Händen hält sie die meiste Zeit ihr Handy. Dessen Rückseite schmückt die Farben der ukrainischen Flagge - sowie ein Spruch der Euromaidan-Bewegung: Ich bin ein Tropfen im Ozean. Die Aktivistin verlässt des öfteren ihre Rolle als Moderatorin und schaltet sich mit steilen Thesen in die Diskussion ein. Sie wisse nicht, wie weit Putin gehen würde. Vielleicht mache er nicht vor der Ukraine halt und "endet wie Hitler."
"Warum soll nur Russland lügen?"
Eine junge Russin aus Moskau erzählt, die Familie ihres Onkels lebe in Donezk und habe alles durch den Krieg verloren. Warum die ukrainische Regierung das Militär in den Osten der Ukraine schicken musste, fragt sie. "Was würdest du denn tun, wenn jemand bewaffnet zu dir nach Hause kommt", fragt Solonenko zurück, die davon überzeugt ist, dass sich russische Truppe im Osten der Ukraine aufhalten. Mit der Frage wolle man gar nicht erst anfangen, sagt ein polnischer Teilnehmer und hebt abwehrend die Hände.
Stattdessen entsteht ein Streit über die Verbreitung von Informationen durch die Medien, die die polnischen und russischen Teilnehmer besonders leidenschaftlich führen: Die Russen würden Bilder und Umfragen manipulieren, sagt Thomas, ein Jurastudent aus Warschau. Das provoziert Wladimir aus Kaliningrad: "Warum soll nur Russland lügen - warum nicht auch der Westen? Das ist schwarz-weiß-Seherei." "Nein, ihr seht schwarz-weiß", sagt Thomas und wendet wütend den Kopf ab.
Später werden beide übereinander sagen, wie sinnlos es ist, mit dem jeweils anderen über das Thema zu diskutieren. "Die Polen hören uns nicht zu", sagt Wladimir. "Die Russen wiederholen nur das, was sie zuhause hören", sagt Thomas. Über die Deutschen äußern sie sich allerdings sehr positiv. Die würden alles so rational sehen. So wie Christian, der noch mal seine Äußerung über die Teilung der Ukraine erläutern will. "Ich finde das nicht gut - ich denke nur, dass es das einzige mögliche Szenario ist." Doch da ist die Zeit schon vorbei. Die Sonne ist mittlerweile herausgekommen. Und Wladimir aus Kaliningrad sagt: "Lasst uns Fußballspielen gehen, das bringt uns wieder zusammen."