Neun Tage nach dem Tsunami wurden am Sonntag nahe der schwer zerstörten Fischerstadt Ishinomaki der 16-jährige Jin und seine 80-jährige Großmutter aus den Trümmern ihres Hauses gerettet. Die Großmutter klemmte unter dem Eisschrank, der Junge dämmerte in Decken gehüllt auf dem Dach, der Bewusstlosigkeit nahe.
In den ersten Tagen nach dem Unglück hatte er noch über sein Handy Kontakt zu seiner Mutter - doch vergeblich: Keiner kam, um ihn und seine Großmutter zu retten. Irgendwann ging das Handy nicht mehr. Bei der Rettung am Sonntag litt Jin an schwerer Unterkühlung, seine Körpertemperatur betrug nur 28 Grad. Seine Großmutter war noch ansprechbar, sie berichtete, dass die beiden sich tagelang nur von Joghurt ernährt hatten, den sie im Kühlschrank gefunden hatten. Ein Hubschrauber flog die beiden ins nächste Krankenhaus. Sie hatten gerade noch Glück.
Doch die frohe Botschaft trügt, und immer mehr Menschen in Japan fragen kritisch nach: Warum hat es neun Tage gedauert, bis die zwei gefunden wurden, obwohl die Mutter wusste, wo sie sind? Warum ist die Rettung nach dem Tsunami so langsam angelaufen?
Vielen anderen Menschen wurde diese Zögerlichkeit zum Verhängnis: In einem beschädigten Altenheim in der Sperrzone fand die Armee am Freitag zum Beispiel 128 Bewohner, die von den Pflegern im Stich gelassen wurden. Sie waren nicht transportfähig und wurden deshalb bei der Evakuierung einfach nicht mitgenommen. 14 von ihnen waren tot. Sie hatten das Erdbeben überlebt, den Tsunami überstanden - und dann mussten sie erfrieren, weil niemand kam, um sie zu holen. Viele andere lagen im Koma.
Entlang der Küste fällt das Thermometer nachts deutlich unter den Gefrierpunkt. Sonntagabend begann es im Norden zu schneien. Und in den Schutzräumen ist es kaum wärmer als draußen. Die japanische Polizei bezifferte die Zahl der Todesopfer am Sonntag auf 8133. Vermisst werden 12.722 Menschen.
In der Präfektur Miyagi, zu der die Millionenstadt Sendai gehört, sagte der Polizeichef am Sonntag, er rechne mit mindestens 15.000 Toten allein in Miyagi. 360.000 Menschen harren noch in Zufluchtsräumen aus, oft ungeheizte Turnhallen oder Schulhäuser, 20.000 von ihnen aus der Sperrzone um den Meiler Fukushima-1. Aus vielen Schutzräumen kommen Notrufe, Lebensmittel, Trinkwasser und Heizöl gehen aus, mancherorts auch die Kerzen. Zehntausende sind ohne ihre Medikamente.
Die Fragen in Japan werden schärfer: Warum lief die Hilfe so langsam an in diesem Land, das weiß, dass das nächste Erdbeben und der nächste Tsunami kommt? Warum sah man selbst eine Woche nach der doppelten Naturkatastrophe wenig Baugerät an der zerstörten Küste? Und kaum freiwillige Helfer?
Die Gründe sind vielfältig, das Erdbeben und der Tsunami haben die japanische Küste über eine Länge von 500 Kilometer zerstört. Die Zahl der Opfer und Obdachlosen ist enorm, ebenso das Ausmaß der Schäden. Die meisten Städte sind völlig zerstört, viele Zufahrtsstraßen sind blockiert. Da vor allem die kleineren Orte überaltert waren - in manchen Fischerdörfern Japans ist der jüngste Einwohner schon 60, die 70-Jährigen pflegen ihre 90-jährigen Eltern - waren die Möglichkeiten zur Selbsthilfe beschränkt.
Ein wichtigerer Grund für die verzögerten Rettungsarbeiten ist jedoch, dass die Regierung von der Katastrophe am Atommeiler Fukushima-1 vollkommen in Anspruch genommen war. Zuerst hatte sie die Störungen an den Reaktoren unterschätzt und den Beschwichtigungen der Betreibergesellschaft geglaubt. Damit verlor sie wertvolle Zeit. Die Erkenntnis, dass die Betreiber stümperten und es zum atomaren GAU kommen könnte, überrumpelte sie geradezu.
Spätestens, seitdem sie zu den Verantwortlichen durchgedrungen ist, dreht sich in Tokio alles um Fukushima-1. Auch die überraschend geringe Zahl Freiwilliger wird mit der Angst vor Verstrahlung erklärt. Allerdings hinderten auch bürokratische Hürden eine schnelle Hilfe. Die Moskauer Nachrichtenagentur Interfax meldete, auf russischen Flughäfen hätten seit Mittwoch mehrere beladene Iljuschin- IL-76-Frachter bereitgestanden, mit denen Moskau Medikamente, Wolldecken und weitere Hilfsgüter liefern wollte.
Japanische Behörden brauchten jedoch zweieinhalb Tage, um die Flüge zu bewilligen. Dann mussten die Maschinen auch noch nach Tokio fliegen, anstatt - wie von den Russen vorgeschlagen - in die Stadt Niigata, die näher am Erdbebengebiet liegt. Und erst am Freitag erlaubte das Gesundheitsministerium ausländischen Ärzten, im Katastrophengebiet Patienten zu behandeln.
Die Hilfe der Lokalregierungen ist oft effizienter. Die Stadt Osaka zum Beispiel hat 23 Feuerwehrmänner nach Kamaishi geschickt und 500 Sozialwohnungen für Überlebende bereitgestellt, die ihr Haus verloren haben. Sie können die Wohnungen sofort beziehen und dort ein Jahr kostenlos bleiben. Dafür müssen sie nur ein Formular ausfüllen.
Viele Städte tun Ähnliches: Saitama nördlich von Tokio etwa hat seine große überdachte Sportarena in einen Zufluchtsort verwandelt. Am Samstag zogen 1900 Überlebende aus dem Städtchen Futaba, das nur vier Kilometer vom Atommeiler entfernt lag und zu 90 Prozent zerstört ist, in die Sportanlage ein. Schon am Sonntag begann die Gemeindeverwaltung von Futaba im Stadion, an improvisierten Schreibtischen zu arbeiten. Sie zahlt Renten aus, stellt den Überlebenden verlorengegangene Personal- und Versicherungsausweise aus und bemüht sich, Kontakte zwischen Verwandten herzustellen. Dann organisierte sie für die Menschen aus Futaba ein Bad, wo sie zum ersten Mal seit dem Tsunami warm duschen konnten.