60 Jahre BRD:Als alle Sozialisten waren

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Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg galt das kapitalistische Wirtschaftssystem als anrüchig - 1949 sah das dann schon ganz anders aus.

Franziska Augstein

Konrad Adenauer hatte für Ludwig Erhard nicht viel übrig. Das lag nicht nur daran, dass Erhards marktwirtschaftliche Theorien ihn nicht interessierten. Adenauer dürfte es nicht gern gesehen haben, dass Ludwig Erhard seinem Professorentitel zum Trotz ausgesprochen volksnah war. Selbst als Bundeskanzler nahm er - auf Besuch im Ruhrgebiet - einen kräftigen Zug aus der Steinhäger-Pulle. Die Kumpel waren begeistert: Erhard trank ihren Schnaps wie Otto Normalverbraucher.

Ludwig Erhard: Erfinder der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik. (Foto: Foto: dpa)

Den Spruch "Der Schornstein muss wieder rauchen" verkörperte Erhard mit seiner allgegenwärtigen Zigarre. Er war das Gestalt gewordene Wirtschaftswunder. Sein Buch "Wohlstand für alle", das der Wirtschaftsminister 1957 veröffentlichte, war ein herrliches Versprechen. Erhard wirkte glaubwürdig. Schon in den frühen dreißiger Jahren hatte er dafür plädiert, die Produktion von Verbrauchsgütern anzukurbeln.

Das Wirtschaftsgeschehen betrachtete er stets aus Sicht der Konsumenten. Deshalb hat er gleich nach dem Krieg seine Sekretärin auf einen Schaufensterbummel geschickt. Nachdem er 1948 zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft beim Wirtschaftsrat der Bizone ernannt worden war, trug der Sohn eines Textilienhändlers seiner Sekretärin auf, sie solle ihm berichten, ob schon mehr Textilien auslagen und wie viel sie kosteten.

Anders als der reservierte Adenauer wirkte Erhard auf seine Umwelt freundlich und aufgeschlossen. Nur bei Adenauer empfahl er sich damit nicht. Der schrieb Erhards Nachnamen gern falsch, nämlich so wie den des Komikers Heinz Erhardt.

Als Ludwig Erhard im März 1948 sein Amt im Wirtschaftsrat antrat, hing er den Thesen der sogenannten Neoliberalen an, die während des Kriegs überlegt hatten, wie die deutsche Wirtschaft nach der Niederlage neu aufgebaut werden könne: Ihrer Ansicht nach sollte die Wirtschaft frei sein, der Staat sollte nicht stören, sondern lediglich helfend eingreifen, Monopole und Kartelle waren zu vermeiden. Das kam amerikanischen Vorstellungen entgegen.

Die "Ordoliberalen", zu denen Ludwig Erhard sich zählte, waren bestrebt, die Wirtschaft frei arbeiten zu lassen und zugleich, so es geboten war, dem Staat essentielle Aufgaben zu übertragen. Ein Neoliberaler im heutigen Sinn war Erhard nicht. Ende der vierziger Jahre sagte er sogar: "Mir fehlt zum Kapitalisten rein alles."

Die schlimmsten Widersacher der Vernunft

In den fünfziger Jahren kam in den Vereinigten Staaten eine neue Theorie auf, die sehr erfolgreich war, weil sie ideologisch ins Zeitalter des Kalten Kriegs passte, und von den Zeitläuften bestätigt zu sein schien: Ökonomischer Wohlstand und Demokratie gehören zusammen wie ein Handschuh zum anderen. Der Soziologe Seymour Martin Lipset formulierte das 1960 so: "Je wohlhabender eine Nation ist, desto größere Chancen hat sie, die Demokratie aufzrechtzuerhalten."

Lipsets Theorie ist seither viel benutzt und oft abgewandelt worden. Auf wenige Länder dürfte sie so zutreffen wie auf die Bundesrepublik. 1945 hatten die Deutschen das Gefühl, vor dem Nichts zu stehen. Die Nation hatte sich schuldig gemacht, sie war der Paria unter den Völkern. Für die Lebenden gab es keine Wohnungen, kein Essen und keine Medikamente, für die Toten keine Särge. Dass ein demokratisches Bewusstsein sich besser entfalten kann, wenn die Menschen ein Auskommen finden, war nicht bloß ein griffiger Gedanke.

Seymour Martin Lipset hat lediglich aufgeschrieben, was vielen Zeitgenossen schon gleich nach Kriegsende bewusst war. "Die Erfassung der Wirklichkeit", stand im November 1947 im Spiegel zu lesen, "ist der erste Schritt zu politischer Einsicht, und wenn der Hunger nicht wäre, wäre die Hoffnung berechtigt, dass das deutsche Volk sich auf dem besten Wege zur Demokratie und zur Erkenntnis seiner europäischen Aufgabe befände. Hunger und wirtschaftliche Not sind aber die schlimmsten Widersacher der Vernunft."

Gleich nach dem Krieg war es für viele Deutsche ausgemachte Sache, dass die Demokratie allein nicht genügte: Es musste die gesamte Wirtschaft neu aufgebaut werden. Dem freien Spiel der Marktkräfte traute man nicht. Das Elend war zu groß. Das galt übrigens nicht nur für Deutschland, sondern auch für Länder wie Frankreich und Großbritannien. Gleich nach Kriegsende setzte man nicht auf Demokratie und Marktwirtschaft, sondern auf Demokratie und Planwirtschaft.

Das neue Staatswesen sollte irgendwie sozialistisch sein, darin waren sich fast alle einig. In ihrem gemeinsam verfassten Gründungsaufruf vom Juni 1945 hatten die Sozialdemokraten aus Ost und West die Verstaatlichung der Banken, Versicherungsunternehmen und der Bodenschätze gefordert, der Bergwerke und der Energiewirtschaft. Damit waren die Genossen nicht allein. Im Juli 1945 veröffentlichte die neue "Liberaldemokratische Partei Deutschlands" einen Aufruf, in dem sie für die "Unterstellung von Unternehmungen unter die öffentliche Kontrolle" plädierte, "wenn die betreffenden Betriebe hierfür geeignet und reif sind".

Der "Christlich-Demokratischen Union", die sich Mitte Juni 1945 konstituierte, gelang eine historische Tat: Protestanten und Katholiken gründeten zusammen eine christliche Partei. Der Zweite Weltkrieg brachte es mit sich, dass der Dreißigjährige Krieg endlich ganz beigelegt wurde. Die katholischen Zentrumspolitiker, christlichen Gewerkschafter und Liberalen, die sich in der CDU zusammenschlossen, wollten "für alle Zeiten die Staatsgewalt vor illegitimen Einflüssen wirtschaftlicher Machtzusammenballungen" schützen.

Das berühmte Ahlener Programm, in dem die CDU sich wie eine sozialistische Partei präsentierte, wurde vom CDU-Zonenausschuss für die britische Zone am 3.Februar 1947 im westfälischen Ahlen veröffentlicht. Der christliche Gewerkschafter Karl Arnold machte es im Frühjahr zum Regierungsprogramm der CDU und wurde zum ersten Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens gewählt. Der erste Satz lautet: "Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden." Planung und Lenkung der Wirtschaft, so war im Ahlener Programm zu lesen, würden auf lange Zeit unerlässlich sein.

Adenauer, der sich an der Abfassung des Ahlener Programms rege beteiligte, stritt erfolgreich dafür, dass das Wort "Sozialismus" nicht in dem Programm auftauchte. Er baute nicht auf den Common Sense der Gesellschaft und nicht auf Vergesellschaftung. "Ich glaube nicht an den Menschen", sagte er, "und habe nie an den Menschen geglaubt." Wenn es nach ihm ging, sollte außer ihm möglichst niemand viel zu sagen haben.

Weil Adenauer seine politische Arbeit in der britischen Besatzungszone begann, fand er zunächst allerdings wenige Verbündete: Die Briten begrüßten, dass der CDU-Mann Karl Arnold für die Sozialisierung wichtiger Industriezweige plädierte. Das entsprach der Politik der damaligen Labour-Regierung.

Gegen die Briten hätte Adenauer sich schwerlich durchsetzen können. Seitdem aber im Februar 1947 die britische und die amerikanische Zone zusammengeschlossen worden waren, dominierten die Amerikaner in der neuen Bizone. Und die hatten mit dem Sozialismus nicht allzu viel am Hut.

General Lucius D.Clay, der mächtige Militärgouverneur, betrieb in Deutschland eine andere Politik. Seymour Martin Lipset hat daraus später seine Theorie gemacht. Clay selbst hat in seinen Memoiren geschrieben: Hunger darf nicht herrschen, wo die amerikanische Flagge weht.

Diese Haltung hat sich für die Amerikaner ausgezahlt. Der Marshallplan, der 1947 verabschiedet wurde, stand dafür ein. Mit dem Geld, das nun floss, war Westdeutschland gewonnen, es wurde ein Brückenkopf der USA im Kalten Krieg. Bei den Deutschen ging die Politik durch den Magen. In der Systemkonkurrenz zwischen Kommunismus und Kapitalismus hatten die Amerikaner leichtes Spiel. Als Stalin 1948 den Fehler beging, die Zufahrtswege zu West-Berlin blockieren zu lassen, konnten die USA abermals zeigen, dass sie es ernst meinten: Die amerikanischen Rosinenbomber waren überzeugender als jede politische Theorie.

Ludwig Erhard hatte die Sympathie des Generals Clay, weil er nicht vom Sozialismus redete. Deshalb nahm Clay es Erhard auch nicht übel, als der in einem kühnen Alleingang anlässlich der Währungsreform am 24. Juni 1948 die Aufhebung von Bewirtschaftung und Preisbindung im Radio ankündigen ließ. Im Nachhinein ist diese Erklärung als der Startschuss für das Wirtschaftswunder zu sehen.

Erhard - Erfinder der sozialen Marktwirtschaft

Ludwig Erhard gilt als Erfinder der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik. Was genau er darunter verstand, hat der CDU-Politiker nicht allzu deutlich gesagt. Nicht an ihm allein lag es, dass die CDU sich schon 1949 vom Ahlener Programm verabschiedete. Es galt von da an als "Jugendsünde", als "sozialistisches Abenteuer". Erhard für sein Teil ergab sich in den fünfziger Jahren den Anforderungen der Tagespolitik. Erst im Alter, 1974, wagte er zu sagen, dass die Epoche der sozialen Marktwirtschaft in seinen Augen beendet sei.

Das war ein später Kommentar zu dem, was der Spiegel schon 1961 als "Mischmasch-Ideologie der sozialen Marktwirtschaft" bezeichnete. Der Motor hinter dem Mischmasch war Konrad Adenauer. Er, der sich gab, als wolle er als Kanzler sterben, suchte allen gefällig zu sein. Und in den goldenen Wachstumszeiten kam er damit durch. (Helmut Kohl hat es ihm nachgemacht, unter weniger günstigen wirtschaftlichen Bedingungen und mit den entsprechenden Resultaten.)

Was Erhard sich unter sozialer Marktwirtschaft vorstellte: Darüber gibt es keinen Konsens. Heute berufen die verschiedensten Leute sich auf ihn. Die einen sagen, er habe das freie Spiel der Wirtschaft befürwortet und das Wort "soziale Marktwirtschaft" nur des guten Klanges halber eingeführt. Die anderen erinnern daran, dass er die Staatsgewalt bei der Wirtschaftsplanung in bestimmten Bereichen für unerlässlich hielt.

Bundespräsident Horst Köhler hat soeben in seiner Berliner Rede festgestellt, gerade die Krise bestätige den Wert der sozialen Marktwirtschaft. US-Präsident Obama strebe für sein Land ein Modell an, das in den Grundzügen dem deutschen Modell der sozialen Marktwirtschaft ähnele. Sie sei "mehr als eine Wirtschaftsordnung. Sie ist eine Werteordnung." Dem hätte auch Ludwig Erhard zugestimmt. Es wird sich zeigen, was davon übrigbleibt.

© SZ vom 28.03.2009/bica - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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