Italien:Zum ersten Mal Pathos

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„Alles wird gut“: Ein Autofahrer an der Grenze Italiens zu Slowenien wird auf Fieber kontrolliert. (Foto: Jure Makovec/AFP)

Der Premierminister beschwört die Größe der Nation. Aber in den Krankenhäusern sterben die Alten allein.

Von Oliver Meiler, Rom

Jetzt ist Italien ganz dicht. Für fast jeden Schritt aus dem Haus und jeden Gang über die Piazza braucht es ein "Modulario Interno 314", so heißt das Formular des Innenministeriums. Damit kann man sich selbst die Dringlichkeit des Rausgehens zertifizieren. Auch für das Einkaufen von Lebensmitteln im Supermarkt, für die Besorgung in der Apotheke, das Geldabheben in der Bank muss man sich vor der Polizei ausweisen - mit einer Unterschrift auf dem Formblatt, downloadbar von der Website des Ministeriums, samt Siegel und geschwungener Schrift.

Alles andere, alles Unnötige, ist nicht mehr erlaubt. Natürlich, mit dem Hund darf man raus. Und ein bisschen joggen und spazieren geht auch, jedoch nur einzeln, nie in der Gruppe. Dem Innenministerium wäre es allerdings lieber, wenn auch darauf verzichtet würde.

Italiens Regierung unternimmt alles, um möglichst viele davon abzuhalten, das Haus zu verlassen. Sie hat auch die Bars, Hotels und Restaurants, die Einkaufszentren und die Friseurläden und alle anderen nicht absolut unabdingbaren Geschäfte und Einrichtungen für zwei Wochen schließen lassen, um gegen die Ausbreitung des Virus zu kämpfen. Und wenn es schon bei früheren Maßnahmen hieß, sie seien beispiellos für Zeiten des Friedens, so ist die jüngste Verordnung für das öffentliche Leben nicht mehr weit weg von einer totalen Ausgangssperre.

"Italien beweist gerade, dass es eine große Nation ist", sagte Premier Giuseppe Conte in einer Ansprache. Man werde Italien im Ausland künftig nicht mehr nur bewundern für seine Schönheit, sondern auch als Modell sehen. "Heute müssen wir Distanz zueinander halten, doch schon morgen werden wir uns mit noch mehr Wärme umarmen und noch schneller laufen." Morgen war als Metapher auf die nahe Zukunft gemeint. Es war das erste Mal seit Beginn der Krise, dass Conte patriotisches Pathos in seine Worte legte.

Die Metapher vom Fernsein und Umarmen lief in Endlosschleife auf den Nachrichtensendern, sie hat das Zeug zum historischen Motto. Ziel war auch, eine Überzeugung zu festigen, die sich ohnehin gerade Bahn bricht in Italien: Man zählt zwar mehr Infektions- und Todesfälle als andere Länder Europas, reagiert aber schneller und konsequenter. Und wird deshalb früher wieder aus der Krise herausfinden, während andere dann Schritt um Schritt den Weg Italiens gehen müssen, Schließung um Schließung, Dekret um Dekret.

Als Beleg dafür wird die Weltgesundheitsorganisation angeführt, die Italien als gutes Beispiel nannte, und die Spitze der EU. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen richtete sich in einer Videobotschaft an die Italiener, auf Italienisch dann noch: "Siamo tutti italiani", sagte sie. Wir sind alle Italiener.

Doch bei aller Selbstmotivation: Niemand wagt eine Prognose, wann der Peak erreicht ist, wie lange es noch dauert, wie viele Menschenleben das Virus noch fordern wird. Die Zeitung Corriere della Sera hat Menschen interviewt, die ihre betagten, oft bereits kranken und mit dem Virus infizierten Eltern und Großeltern verloren haben, ohne sich verabschieden zu können. Aus Furcht vor Ansteckungen darf in manchen Krankenhäusern niemand ans Sterbebett der Lieben. "Sie sterben alleine", titelt der Corriere. Und auch das Trauern ist eingeschränkt: Bestattet wird im kleinsten Kreis, Trauerfeiern sind auf Zeiten verschoben, wenn man sich wieder umarmen darf.

Die Zustände in den norditalienischen Krankenhäusern sollen dramatisch sein, allein in der Lombardei liegen Hunderte Erkrankte auf Intensivstationen. Die Sorge ist groß, dass das System kollabieren könnte. Bilder aus den Hospitälern gibt es keine, nur Zeugnisse von Ärzten, die seit Wochen im Dauereinsatz sind. Auch in den sozialen Medien gibt es Berichte, manche sind verstörend, sie gingen viral. Patienten würden nach ihrem Alter sortiert, hieß es da: Die jüngeren würden behandelt, die älteren nicht. Doch ist das auch wahr? Roberto Fumagalli, Oberarzt auf einer Intensivstation in Mailand, warnte vor fake news: "Haltet euch an die glaubwürdigen Informationen, verbreitet die Botschaften nicht weiter!"

Besorgt um verlässliche Quellen ist auch die Regierung. Auf der kurzen Liste der Geschäfte, die trotz Totalblockade offen sein dürfen, stehen auch die "Edicole", die Zeitungsstände. Information zählt also auch - oder vielleicht: gerade - in Zeiten des Coronavirus zu den Grundbedürfnissen. Fürs Zeitungholen darf man raus, mit dem "Modulario Interno 314". Und die Blätter erklären im Detail, was man noch darf und was nicht mehr. La Repubblica gibt Ratschläge, wie sich die lange Zeit daheim am besten bewältigen lässt - in sechs Kategorien: Lektüren, Streamingdienste, Gesellschaftsspiele, Gymnastik, Videospiele, Kochrezepte. In dieser Sektion der Zeitung, am Donnerstag zum Beispiel auf Seite 18, wird der Tonfall verspielter. Für die Moral, nach all dem Schweren.

Seit einigen Tagen mehren sich auch spontane Ermunterungen auf Hausmauern und Balkonen, in Form von Graffiti, Spruchbändern, Kinderzeichnungen. Es wird den Ärzten und Krankenpflegern gedankt, die sich so aufopfern. Und dann gibt es viele bunte Transparente für die Beruhigung der Besorgten, zumeist mit demselben Spruch: "Andrà tutto bene." Alles wird gut.

© SZ vom 13.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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