Italien:Martyrium eines Unbeugsamen

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Zwei Kugel trafen Rosario Livatino, eine war tödlich. Ein Bild nahe dem Tatort. (Foto: imago)

Der sizilianische Richter Rosario Livatino ging unerschrocken gegen die Mafia vor und bezahlte das mit seinem Leben. Er wurde nur 37 Jahre alt. Nun spricht ihn die katholische Kirche selig. Die Geschichte einer Premiere.

Von Oliver Meiler, Rom

Der Vatikan setzt ein Zeichen gegen die Mafia, ein lautes, obschon es in der leisen Form einer Seligsprechung daherkommt. Es ist ein Bannstrahl, nicht weniger.

Richter Rosario Livatino aus dem sizilianischen Canicattì, ermordet von Killern des organisierten Verbrechens an einem Herbsttag 1990, wird zur Ehre der Altäre erhoben, im Schnellverfahren. Papst Franziskus hat ihn zum Märtyrer erklärt, nach der Formel "In odium fidei": Livatino soll aus Hass auf seinen Glauben und auf seinen Gerechtigkeitssinn getötet worden sein.

Dass ein Laie als Märtyrer der katholischen Kirche anerkannt wird, gab es noch nicht oft, schon gar nicht in Europa. Einem italienischen Richter wurde diese Ehre noch nie zuteil. Und da diese Kirche sich im vergangenen Jahrhundert nicht immer so klar und deutlich auf die Seite der Rechtschaffenen im Kampf gegen die Mafia gestellt hatte, sondern oft wegschaute, fällt der Geste nun ein besonderes Gewicht zu - politisch und gesellschaftlich.

Die Italiener kennen Livatino als "Giudice ragazzino", als Richterjunge, so heißt auch der Titel eines berühmten Films, der seine Geschichte erzählt. Er war erst 37 und schon Richter am Tribunal von Agrigento, unverheiratet, bubenhaftes Gesicht, als ihn die Mafia umbrachte.

Die Karriere des Mafiajägers fiel in eine bleierne Zeit

21. September 1990, 8.30 Uhr. Livatino fuhr mit seinem alten roten Ford Fiesta auf der Superstrada 640 zur Arbeit, wie immer ohne Leibwache, als ihn ein Wagen abdrängte. Seine Mörder saßen auf einem Motorrad und eröffneten das Feuer, die Heckscheibe ging zu Bruch. Der Richter wurde an der Schulter getroffen, schaffte es aber, sich aus dem Wagen zu befreien und über die Leitplanke zu steigen, er rannte eine Böschung hinunter. Zwei Kugeln hatten ihn getroffen, eine war tödlich.

Der Begriff "Giudice ragazzino" war nicht nett gemeint. Geprägt hat ihn Francesco Cossiga, Italiens Staatspräsident von 1985 bis 1992, acht Monate nach Livatinos Tod. Cossiga beschrieb damit eine Generation unerschrockener, angeblich aber völlig unerfahrener und deshalb unfähiger Mafiajäger, die sich Fällen angenommen hätten, die viel größer gewesen seien als sie. Der Sarde, ein Polemiker von Natur, eckte gerne an mit seinen Sprüchen. Doch dieser ging vielen zu weit, er verletzte das Gedenken an den jungen Richter.

Livatinos Karriere fiel in eine bewegte, bleierne Zeit auf der Insel. Im Süden Siziliens hatten sich Mitläufer von Cosa Nostra in einer neuen, rivalisierenden Organisation zusammengefunden, die noch brutaler mordete als der herrschende Clan aus Corleone: die Stidda, sizilianisch für Stern. Ihr wichtigster Wirkungsraum waren Agrigento und Umgebung. Livatino wohnte mit seinen Eltern in einem Haus im Zentrum der Stadt Canicattì, in dem auch einer der örtlichen Bosse lebte. Man versuchte, ihn zu bestechen, immer wieder, doch Livatino blieb unnahbar. Um dem Boss aus dem Weg zu gehen, verließ er das Haus stets durch einen Hinterausgang.

Gefährlich wurde er den Mafiosi, weil er im Gegensatz zu anderen Richtern moderne, effiziente Ermittlungsmethoden anwandte. Er prüfte Bankkonten, kreuzte die Spuren des Geldes, ließ Telefone abhören, er ging auch den internationalen Verbindungen im Drogengeschäft nach - etwa der Connection eines Clans nach Kanada.

Vor der Arbeit ging Livatino immer zur Frühmesse

Und Livatino traf die Bosse dort, wo es sie am meisten schmerzte: beim Besitz. Er ließ Güter und Ländereien der Mafia konfiszieren, dafür gab es ein neues Gesetz. Zuletzt sollte er in einem Fall der Mafia von Porto Empedocle urteilen, einer besonders ruchlosen Bande. Er starb vor dem letzten Verhandlungstag.

Livatino war sehr gläubig, ein praktizierender Katholik, das war bekannt. Vor der Arbeit ging er immer zur Frühmesse. In seine Arbeitsagenden schrieb er jeweils als Erstes drei Buchstaben: STD, die Abkürzung von "Sub tutela Dei", unter Gottesschutz. Der Clan, der ihn umbrachte, so sollten es später Kronzeugen erzählen, wollte ihn zunächst vor der Kirche abpassen. Dann entschied man sich doch für die SS 640.

Zur Trauerfeier reiste die gesamte Politprominenz aus Rom an, auch Cossiga war dabei. Und natürlich die Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, die Avantgarde im Kampf gegen die Mafia. Sie sollten weniger als zwei Jahre später umgebracht werden, von Cosa Nostra. 1993 besuchte Johannes Paul II. Sizilien. Er traf sich auch mit den Eltern von Rosario Livatino, hielt minutenlang die Hände der Mutter, ohne ein Wort zu sagen: Die Begegnung sollte den Papst tief bewegen. Er nannte den Richter schon damals einen "Märtyrer der Gerechtigkeit und indirekt auch des Glaubens".

Seine Messe im Valle dei Templi, den archäologischen Stätten Agrigents mit ihren altgriechischen Tempeln, war dann eine denkwürdige Abkehr vom langen Schweigen der Kirche. Eine "Zivilisation des Todes" nannte er die Mafia und sagte: "Ich rufe den Verantwortlichen zu: Bekehrt euch! Eines Tages wird Gottes Urteil über euch kommen."

Der Pole tat, was kein Papst vor ihm je getan hatte

Der Geistliche, der neben ihm auf dem Podium stand, führte seine Hände zum Gesicht, als glaubte er nicht, was er da hörte. Aus der großen Gemeinde im Freien stieg Applaus, zunächst zaghaft, dann etwas lauter. Die Mafia hatte sich ja immer scheinfromm gegeben, hatte Riten und Prozessionen mitgemacht oder gar finanziert, um so ihrem Handeln eine quasireligiöse Dimension zu verleihen. Der Pole exkommunizierte sie, wie das kein Papst vor ihm je getan hatte.

Mit seinem Dekret vollendet Franziskus nun diesen Weg der Kirche. Ein Märtyrer muss keine Wunder vollbracht haben, um selig und dann wohl bald auch heilig gesprochen zu werden. Sein Beispiel reicht aus, es beschleunigt den Prozess. Von Livatino ist ein Satz berühmt geworden, der seine Geschichte in eine Maxime verdichtet: "Wenn wir sterben", sagte er einmal, "kommt niemand und fragt, wie gläubig wir waren - sondern wie glaubwürdig."

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