Israel:"Wir schützen jüdisches Leben"

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Der deutsche Bundespräsident darf in Israel eine Rede zum Holocaust-Gedenken halten. Frank-Walter Steinmeier nutzt sie für ein leidenschaftliches Plädoyer gegen den Antisemitismus von heute.

Von Stefan Braun und Alexandra Föderl-Schmid, Jerusalem

Nachum Rotenberg muss immer wieder abbrechen, wenn er über seine Zeit im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau erzählt. "Die Soldaten haben so geschrien und 'Schnell, schnell' gerufen. Sie haben uns getrennt. Ich habe zu meiner Mutter nichts mehr sagen können. Das ist das Schlimmste", schildert der 91-Jährige mit Tränen in den Augen die Ankunft. Erst nach einer langen Pause redet er weiter: "Mein Bruder hat mich auf die andere Seite gezogen." Auf die andere Seite hieß: Leben. Rotenberg war damals fast 16 Jahre alt, sein Bruder Szmuel sechs Jahre älter: "Mein Vater und meine Mutter kamen gleich in die Gaskammern. Auch sie haben geschrien." Diese Abschiedsszenen und das Bild des toten Bruders, der einen Tag vor Kriegsende starb, verfolgen ihn: "Ich träume davon jede Nacht", sagt Rotenberg, und Tränen rollen über sein Gesicht: "Ich hatte richtig viel Glück."

Rotenberg ist einer von etwa hundert Holocaust-Überlebenden, die zur Gedenkveranstaltung eingeladen wurden, die in Jerusalem an die Befreiung des Lagers Auschwitz durch sowjetische Truppen vor 75 Jahren erinnert. Er wurde in Lodz geboren, 1946 kam er ins damalige Palästina. Ob er es richtig finde, dass zum ersten Mal ein deutsches Staatsoberhaupt in der Gedenkstätte Yad Vashem eine Rede halten dürfe? "Ja, die Zeiten haben sich geändert. Aber es gibt noch immer so viel Antisemitismus in Deutschland, aber auch in Polen. Ich verstehe nicht, warum das so ist. Warum das noch immer so ist", sagt er.

So ist es kein einfacher Auftritt für einen deutschen Bundespräsidenten. Aber Frank-Walter Steinmeier möchte ihn nutzen, um sehr deutlich zu werden beim Beschreiben der Vergangenheit und der Lage heute. Als er beim Welt-Holocaust-Forum die Bühne betritt, haben die Vertreter der einstigen Siegermächte vor aller Welt schon gesprochen: Sie haben an den Völkermord erinnert und den Kampf gegen Antisemitismus beschworen. Jetzt ist er dran, der Vertreter des Landes, das einst die großen Verheerungen über Europa und die Welt gebracht hat. Angespannt wirkt Steinmeier, als es losgeht.

Er beginnt auf Hebräisch. "Gepriesen sei der Herr, dass er mich heute hier sein lässt", sagt er in der Sprache der Israelis. Es ist Zeichen seines Dankes dafür, dass er trotz der deutschen Verbrechen überhaupt kommen konnte als Vertreter Deutschlands, das zurückkehren durfte in die Weltgemeinschaft. Er sei "erfüllt von Dankbarkeit für die ausgestreckte Hand der Überlebenden, für das neue Vertrauen von Menschen in Israel und der ganzen Welt".

Steinmeier spricht sie direkt an: die Gastgeber und die Vertreter der einstigen Siegermächte, darunter sind Russlands Präsident Wladimir Putin, sein französischer Kollege Emmanuel Macron und der britische Thronfolger Prinz Charles. Dann folgt ein Bekenntnis, das deutlicher kaum sein könnte: "Die Täter waren Menschen. Sie waren Deutsche. Die Mörder, die Wachleute, die Helfershelfer, die Mitläufer: Sie waren Deutsche."

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(Foto: dpa)

Frank-Walter Steinmeier mit Prince Charles.

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(Foto: Ronen Zvulun/AFP)

Rabbi Israel Meir Lau, Vorsitzender des Yad Vashem Councils, spricht mit Israels Premierminister Netanjahu und Kremlchef Putin (von links).

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(Foto: Ronen Zvulun/REUTERS)

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron umarmt Frank-Walter Steinmeier.

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(Foto: Getty Images)

Der amerikanische Vizepräsident Mike Pence und seine Ehefrau Karen.

Er lässt keinen Zweifel daran, wie er den Völkermord an den Juden einordnet: "Der industrielle Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden, das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte - es wurde von meinen Landsleuten begangen." 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz stehe er nun hier, "beladen mit großer historischer Schuld". Steinmeier möchte keine Fragen und keine Interpretationsmöglichkeiten lassen: "Der grausame Krieg, der weit mehr als 50 Millionen Menschenleben kosten sollte, er ging von meinem Land aus."

Den Blick zurück beendet Steinmeier allerdings schon bald in seiner gut acht Minuten langen Rede. Danach will er über heute sprechen. "Ich wünschte, sagen zu können: Unser Erinnern hat uns gegen das Böse immun gemacht", sagt er. Aber das sei leider nicht der Fall: "Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr antisemitisches, ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme unserer Zeit."

Gerne würde er feststellen, dass alle Deutschen aus der Geschichte gelernt hätten: "Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten. Das kann ich nicht sagen, wenn jüdische Kinder auf dem Schulhof bespuckt werden." Und ja, das könne er nicht sagen, "wenn nur eine schwere Holztür verhindert, dass ein Rechtsterrorist an Jom Kippur in einer Synagoge in Halle ein Blutbad anrichtet".

Nein, es seien nicht die gleichen Täter. Aber: "Es ist dasselbe Böse." Mehr denn je gelte: "Nie wieder!" Es dürfe es keinen Schlussstrich geben - diese Verantwortung sei der Bundesrepublik "vom ersten Tag an eingeschrieben". Deutschland werde sich nur dann selbst gerecht, wenn es seiner historischen Verantwortung gerecht werde: "Wir bekämpfen den Antisemitismus! Wir trotzen dem Gift des Nationalismus! Wir schützen jüdisches Leben! Wir stehen an der Seite Israels!"

Als Steinmeier seine Rede beendet hat, brandet Beifall auf. Als Erster umarmt ihn Frankreichs Präsident Macron, der zuvor gesagt hatte, es sei nicht selbstverständlich, dass Steinmeier hier reden dürfe. Dann schließt Israels Präsident Reuven Rivlin den Deutschen in die Arme - mit Tränen in den Augen.

© SZ vom 24.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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