Israel:Revolution am heiligsten Ort

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Blick über den Zaun: An der Klagemauer waren die Geschlechter bisher streng getrennt - darauf bestanden ultraorthodoxe Rabbiner. (Foto: Uriel Sinai/Getty)

Fast 30 Jahre lang kämpft eine Frauengruppe für Gleichheit im Gebet. Nun entscheidet die israelische Regierung: An der Klagemauer in Jerusalem soll eine "gemischte Zone" für beide Geschlechter entstehen.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Als die Entscheidung gefallen war, ist Anat Hoffman zur Klagemauer geeilt. Wohin sonst? Sie hat sich den weißen, fein bestickten Gebetsschal über die Schultern gelegt und am heiligsten Ort des Judentums zusammen mit ein paar Mitstreiterinnen diesen Augenblick genossen, der von vielen als "historisch" bewertet wird: Auf Beschluss der israelischen Regierung wird an der Klagemauer eine neue Sektion eröffnet, in der Männer und Frauen nicht mehr wie bisher strikt getrennt, sondern gemeinsam und nach den Regeln des liberalen Judentums beten dürfen. Es ist das Ergebnis eines fast 30 Jahre währenden Kulturkampfs, und Anat Hoffman, Mitbegründerin und Direktorin einer Organisation namens "Woman of the Wall", darf sich diesen Erfolg ans Revers heften. "Wir haben uns alle umarmt, das war sehr bewegend", sagt sie, "es ist eine feministisch-jüdische Revolution."

Bislang war die heilige Mauer ja eine Männerdomäne, genauer gesagt die Domäne der ultraorthodoxen Herren der Schöpfung, die hier an den 18 Meter hohen Überresten des vor knapp 2000 Jahren zerstörten Zweiten Tempels die Regeln des Gebets bestimmen. Abgetrennt durch einen blickdichten Bretterzaun, dürfen zwar auch die Frauen zur Klagemauer kommen. Doch nach der angeblich gottgewollten Ordnung ist es ihnen verboten, den Gebetsschal zu tragen, aus der Thora zu lesen oder laut zu singen.

Dagegen sind Anat Hoffman und ihre Glaubensschwestern Sturm gelaufen, seit 1988 schon und jeden Monat aufs Neue. "Als wir anfingen, waren wir Singles, heute sind wir Großmütter", sagt Hoffman, die vor 61 Jahren in einem Kibbuz nahe Jerusalem geboren wurde. An jedem ersten Tag des jüdischen Kalendermonats versammeln sie sich an der Klagemauer und demonstrieren für die Gleichheit im Gebet. Sie sind dort beschimpft, bespuckt und mit Eiern beworfen worden. Die Polizei hat sie abgeführt, verhört und ins Gefängnis geworfen. Unzählige Prozesse sind geführt worden, ohne dass sich etwas änderte - bis sich schließlich die israelische Regierung eingeschaltet hat.

Der Streit um die Gebetsrechte für Frauen an der Klagemauer nämlich verweist auf einen viel größeren und grundsätzlichen Konflikt im Judentum, das sich in vielerlei Strömungen verzweigt. In Israel haben sich die sittenstrengen Orthodoxen das Monopol gesichert auf alle Regeln des jüdischen Lebens, von der Konversion bis zur Hochzeit. Doch daran stoßen sich viele im Land - und noch mehr in der großen amerikanischen Diaspora, wo ein Gutteil der Juden liberaleren Gruppierungen angehört. Der Streit der Mauerfrauen um Anat Hoffman fand schließlich ein derart lautes Echo in den USA, dass die Jerusalemer Regierung gar eine wachsende Entfremdung der amerikanischen Juden mit Israel fürchten musste.

Die Ultraorthodoxen wettern weiter gegen die Frauen. Anderen geht die Lösung nicht weit genug

Deshalb hatte Premierminister Benjamin Netanjahu schon vor Jahren eine Kommission gebildet, die den Streit entschärfen sollte. Heraus kam dabei nun ein Kompromiss nach Art eines Kolumbus-Eies: Der Gebetsplatz an der Klagemauer wird einfach erweitert. In den bisherigen Sektionen für Männer und Frauen bleibt alles beim Alten, doch südlich davon entsteht eine "mixed zone" für das geschlechtergemischte Gebet. Dieser Ort untersteht nicht den ultraorthodoxen Rabbinern - sie können also dort den Frauen nicht mehr Gebetsschals, die Thora-Lesung und das Singen verbieten. Damit die neue Sektion nicht wie ein Abstellgleis aussieht, haben die "Woman of the Wall" durchgesetzt, dass auch der Platz vor der Klagemauer umgebaut und ein gemeinsamer Eingang für alle drei Sektionen geschaffen wird.

Zufrieden allerdings sind damit längst nicht alle. Die Frommen wettern weiter gegen die Frauen, und auch für ein paar von Anat Hoffmans Mitstreiterinnen geht diese Lösung nicht weit genug. Umständehalber hat sich auch Israels Regierung schwer getan mit der Entscheidung, schließlich gehören dem Kabinett zwei ultraorthodoxe Parteien an. 15:5 ging die Abstimmung am Ende unter den Ministern aus, die Frommen verzichteten aber auf ein Veto, und Netanjahu sprach hinterher von einem "fairen und kreativen Kompromiss". Nun muss er das Geld zusammenkriegen. Die anstehenden Umbauten werden auf rund zehn Millionen Euro veranschlagt. In ein paar Monaten soll alles fertig sein.

Fürs Erste jedenfalls will sich Anat Hoffman die Freude nicht verderben lassen. Für sie ist das ein "dramatischer Sieg" nicht nur an der Klagemauer. Sie hofft, dass nun viele Mauern ins Wanken geraten, mit denen Israels Chef-Rabbinat die liberalen Strömungen eindämmt. Doch drei Jahrzehnte Erfahrung haben sie auch Vorsicht gelehrt. "Nun müssen wir die Umsetzung abwarten", sagt sie. "Bis alles fertig ist, ändern wir nichts und treffen wir uns weiter jeden Monat in der Frauen-Sektion zum Gebet."

© SZ vom 02.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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