Israel:Operation Moses, unvollendet

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Beim Protest aus Äthiopien stammender Israelis explodiert Zorn darauf, noch nach 30 Jahren Rassismus zu erleben.

Von Alexandra Föderl-Schmid, Tel Aviv

"Es gibt Rassismus. Ich habe es am eigenen Leib erfahren. Ich habe schon in der Schule die Erfahrung gemacht, geschlagen zu werden." Elrand Swoope lässt sich auch durch ein massives Polizeiaufgebot nicht davon abhalten, an der Demonstration beim Azrieli-Center im Zentrum Tel Avivs teilzunehmen. "Für mich ist das ein sehr bewegender Moment. Ich bin hier in Israel geboren mit schwarzer Haut. Ich will mich sicher fühlen in diesem Land." Der 24-jährige Computerexperte stimmt ein in den Chor der Demonstranten: "Wir sind alle Solomon Teka", rufen sie.

Der 18-jährige Solomon Teka, Israeli äthiopischer Herkunft, war vergangenen Sonntag in Haifa von einem Polizisten in Zivil erschossen worden. Der Polizist erklärte danach, er habe streitende Jugendliche angesprochen, die ihn dann mit Steinen beworfen hätten. Er habe um sein Leben gefürchtet und geschossen. Augenzeugen erklärten dagegen, er sei nicht attackiert worden.

Dass der Polizist nach kurzer Zeit auf freien Fuß kam, während die Ermittlungen weitergehen, war für viele Juden mit äthiopischen Wurzeln der Auslöser, auf die Straße zu gehen. Seit Wochenbeginn dauern die Proteste an, die sich explosionsartig entluden - die gewalttätigsten seit Jahren. Im ganzen Land wurden Straßen blockiert, Zehntausende saßen fest. Fahrzeuge und Autoreifen wurden angezündet, mindestens 147 Menschen verletzt, unter ihnen 111 Polizisten. 136 Demonstranten wurden laut Polizei festgenommen.

Das Problem ist seit langem bekannt: Beginnend mit der "Operation Moses" 1984 holte die israelische Regierung Zehntausende äthiopischer Juden ins Land, um sie vor Hunger und Verfolgung zu retten. Inzwischen sind die äthiopischen Juden als Abkömmlinge des Stammes Dan, eines der zehn verlorenen Stämme Israels, vom israelischen Rabbinat offiziell anerkannt. Doch 30 Jahre nach den ersten Rettungsaktionen kämpfen die schwarzen Juden in jenem Land, in dem sie Zuflucht erwartet hatten, gegen Rassismus und Diskriminierungen im Alltag und beim Militärdienst.

Eine Demonstrantin mit dem Bild des erschossenen Solomon Teka. (Foto: Menahem Kahana/AFP)

Vor allem der Polizei lasten sie Fehlverhalten an. Rund ein Dutzend Juden äthiopischer Herkunft wurden in den vergangenen Jahren von Uniformierten unter fragwürdigen Umständen getötet, in diesem Jahr gab es bereits zwei Tote. Vor Teka, der vor sechs Jahren nach Israel kam, wurde ein 24-Jähriger von Sicherheitskräften erschossen. Die Eltern warfen der Polizei vor, sie habe ihn "vorsätzlich und kaltblütig ermordet, weil er Äthiopier war". Auch Elrand Swoope hat schon öfter negative Erfahrungen mit Polizisten gemacht. So werde er häufig nach seiner Identitätskarte gefragt, immer wieder drangsaliert und kontrolliert, während seine weißen Freunde unbehelligt blieben. "Ich frage dann immer: Warum? Warum kontrolliert ihr mich? Sie sind rüde zu mir. Als weißer Bürger hätten sie mich gehen lassen."

Er schildert auch einen Vorfall von vor einem Jahr. Polizisten hätten ihn in einem Auto angehalten und behauptet, das Fahrzeug sei gestohlen. "Ich habe ihnen dann die Papiere gezeigt, ich bin der Eigentümer. Ich habe dann gefragt: ,Macht ihr das, weil ich schwarz bin?' Das war eindeutig rassistisch motiviert." Daraufhin sei er festgenommen worden. Er habe auf seine Rechte verwiesen: "Ich habe ihnen gesagt: Ihr dürft mich nicht auf diese Weise behandeln. Daraufhin haben sie mich hinter der Polizeistation geschlagen. Es waren zwei Polizisten, die darauf geachtet haben, dass sie nicht von Kameras aufgezeichnet werden." Was in besonders empört: "Das war mitten in Tel Aviv, es kamen Leute vorbei und keiner hat mir geholfen. Man hat mich wie ein Tier behandelt."

Fast jeder der Demonstranten mit äthiopischen Wurzeln berichtet über Diskriminierungen. Die Proteste in Israel ähneln der "Black-Lives-Matter"-Bewegung in den USA, die sich gegen Diskriminierung durch staatliche Stellen und ihre Vertreter richtet. Dass sich die Wut in dieser Woche in Israel so eruptiv entladen hat, verwundert Assaf Gebane nicht, den Vorsitzenden der äthiopischen Juden in Israel: "Wir sind nicht hierher gekommen, damit unsere Söhne umgebracht werden. Wir haben diese Reise nicht unternommen, um diesen hohen Preis zu zahlen, dass unsere Kinder vor den Augen ihrer Brüder ermordet werden. Es ging nicht darum, uns einen Gefallen zu tun, indem man uns hierher gebracht hat." 150 000 Juden äthiopischer Herkunft leben derzeit in Israel, rund 50 000 davon sind bereits im Land geboren.

Die Integration der äthiopischstämmigen Bürger gestaltete sich mühsamer als die der mehr als eine Million russischer Immigranten, die zeitgleich nach Israel kamen. Die Äthiopier mussten jahrelang in Auffanglagern ausharren, während für die russischen und ukrainischen Juden rasch Wohnraum vor allem in den Siedlungen im Westjordanland geschaffen wurde. Israelis äthiopischer Herkunft klagen auch darüber, dass der Staat den Nachzug Familienangehöriger verzögert.

Sie verdienen deutlich weniger als die meisten Israelis, haben eine schlechtere Schulbildung und landen damit in der unteren sozialen Schicht. Dass es in Israel eine Klassengesellschaft gibt, bestätigt der in Tel Aviv lehrende Soziologe Natan Sznaider. Es gebe eine Diskriminierung, die sei "eine Mischung aus Rasse und Klasse", sagt der Autor des Buches "Gesellschaften in Israel". Die äthiopischen Juden hätten weder wirtschaftliches noch symbolisches Kapital. Das Dilemma des Zionismus sei, dass man vom Begriff des jüdischen Volkes ausgehe. "Aber nichts ist heterogener als das jüdische Volk."

Sznaider verweist darauf, dass "die Blutgeschichte" noch immer relevant sei. In den neunziger Jahren wurde bekannt, dass die Hilfsorganisation Roter Davidstern über Jahre hinweg die Blutspenden von Äthiopiern ungeprüft entsorgt hatte - aus Angst, sie seien mit HIV infiziert. Nicht einmal als Blutsbrüder werden sie akzeptiert.

2015 gab es bereits Proteste äthiopischer Juden gegen Rassismus. Von den damals versprochenen 52 Maßnahmen hat die Regierung laut der Zeitung Haaretz nur neun umgesetzt. "Es liegt noch Arbeit vor uns", räumte Premier Benjamin Netanjahu nun ein. Der äthiopischstämmige Knesset-Abgeordnete Gadi Yevarkan sagte bei der Beerdigung von Solomon Teka: "Ich würde gerne versprechen, dass Solomon der Letzte ist. Aber ich weiß, dass wir uns bei der nächsten Beerdigung wieder treffen."

© SZ vom 06.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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