Israel:Korruptionsvorwürfe und Corona

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Wut auf den Premierminister treibt Tausende Israelis auf die Straße - doch Benjamin Netanjahu ist längst zur Gegenoffensive übergegangen.

Von Peter Münch, Jerusalem

Eine Demonstrantin wird vor Netanjahus Amtssitz festgenommen. (Foto: AFP)

Am Tag danach herrscht im Protestcamp schläfrige Ruhe, vielleicht ist es auch Erschöpfung. Die Residenz des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu in der Jerusalemer Balfour-Straße, vor der am Abend und in der Nacht zuvor Tausende wütend und lautstark demonstriert haben, liegt blickdicht abgeschirmt hinter einem riesigen schwarzen Vorhang. Auf dem breiten Gehsteig der Zufahrtsstraße harrt der harte Kern der Demonstranten aus, unter dem Schatten von Plastikplanen und umstellt von selbstgemalten Schildern, auf denen "Covid-19 - Diktatur-20" steht oder einfach nur "Bibi, geh weg". Bibi ist der Spitzname des Premiers, und zu seinem Schutz stehen für alle Fälle auch genügend Polizisten hier bereit. Denn jeder weiß, es herrscht gerade nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm.

Eine landesweite Protestbewegung hat Israel erfasst, und viele haben viele Gründe, den Regierungschef zum Rücktritt aufzufordern. Zunächst die Zahlen: Mindestens 5000 Menschen sind es am Samstagabend in Jerusalem gewesen. Es war dort die achte Demonstration in elf Tagen, am Ende kam es, wie schon mehrmals zuvor, zu Zusammenstößen. Rund tausend Demonstranten wurden auch vor dem privaten Wohnsitz des Premiers in der Küstenstadt Caesarea gezählt. In Tel Aviv wurde, wie schon in der Vorwoche, wieder in einer strandnahen Grünanlage protestiert, diesmal nur von einigen hundert Menschen. Zudem waren an rund 250 Kreuzungen landesweit die schwarzen Fahnen der Anti-Netanjahu-Bewegung zu sein.

Ein buntes, breites Bündnis ist dies, ohne feste Organisationsform und Führung. Die einen treibt die Wut darüber auf die Straße, dass der Premierminister einfach weiterregiert, obwohl er sich vor Gericht wegen Korruptionsvorwürfen zu verantworten hat. Die anderen werfen ihm ein desaströses Missmanagement in der Coronakrise vor, die fast eine Million Israelis in die Arbeitslosigkeit und unzählige Selbständige in Existenznöte getrieben hat.

Der Regierungschef ist indes längst zum Gegenangriff übergegangen. Den israelischen Medien wirft er - Stichwort "fake news" - vor, die Zahl der Demonstranten maßlos zu übertreiben. Zudem verweist er auf Morddrohungen gegen sich und seine Familie, von denen nichts in den Medien gemeldet würde. Die Demonstranten ordnet er pauschal der "anarchistischen Linken" zu, "die eine rechte Regierung und ihren Anführer stürzen will". Das heizt die Stimmung zusätzlich an und bringt auch andere Gruppierungen auf die Straße. Gewaltsam eskaliert ist das am Wochenende gleich an mehreren Orten - in Jerusalem griff sich ein schwarz gekleideter Schlägertrupp eine Gruppe von Anti-Netanjahu-Demonstranten auf dem Heimweg, im Süden des Landes wurde einer durch einen Messerstich am Hals verletzt, nahe Tel Aviv gab es einen Angriff auf Demonstranten mit Pfefferspray.

Netanjahus Minister für öffentliche Sicherheit Amir Ohana sucht offenbar bereits nach Wegen, die Demonstrationen einzudämmen. Die Proteste bezeichnet er als "Coronavirus-Inkubator". Seine Forderung: Sie sollten zahlenmäßig begrenzt und in "offenes Gelände" verlegt werden. In seiner Residenz in Jerusalem oder zu Hause in Caesarea müsste der Premier die Proteste dann wenigstens nicht mehr hören.

© SZ vom 27.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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