Israel:Erinnerung an ein Trauma

Lesezeit: 2 min

Ein Künstler zeigt Premier Netanjahu beim letzten Abendmahl. Er meint, Israel sei einen Moment vom letzten Abendmahl der Demokratie entfernt. (Foto: Oded Balilty/dpa)

Schlägertrupps gehen auf demonstrierende Regierungskritiker los.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Die Lage ist aufgeheizt, die Lager prallen aufeinander. Gleich mehrfach ist es in dieser Woche bei Demonstrationen in Israel zu Gewalt gekommen. Obskure Schlägertrupps nehmen dabei offenbar gezielt Teilnehmer der landesweiten Proteste gegen Regierungschef Benjamin Netanjahu ins Visier. Aufgeschreckt von blutigen Bildern sehen manche Politiker im gespalten Land bereits die Gefahr eines "Bürgerkriegs" zwischen den Rechten und den Linken. Präsident Reuven Rivlin warnt vor einem Klima, in dem politische Morde zu erwarten seien. Angetrieben wird die Debatte über den Kampf der Israelis gegen Israelis von einem tief sitzenden Trauma: 1995 war nach hasserfüllten Auseinandersetzungen um den Friedensprozess mit den Palästinensern der israelische Premierminister und Friedensnobelpreisträger Jitzchak Rabin von einem jüdischen Extremisten erschossen worden.

Vorläufiger Kulminationspunkt der neuen Konfrontation war eine Demonstration in Tel Aviv, die sich gegen Polizeigewalt richtete. In den Protestzug mischten sich Berichten zufolge schwarz gekleidete Hooligans, die urplötzlich mit zerbrochenen Glasflaschen und Stühlen auf einzelne Demonstranten einprügelten und sie mit Pfefferspray traktierten. Mindestens fünf Verletzte mussten ins Krankenhaus. Teilnehmer der Demonstration warfen der Polizei vor, sie den Schlägern untätig ausgeliefert zu haben. Tags darauf wurden drei Festnahmen gemeldet.

Präsident Rivlin nahm den Vorfall zum Anlass für eine dramatische Warnung. "Der Mord an einem Demonstranten oder der Mord an einem Premierminister ist keine Fantasievorstellung", sagt er in Anspielung auf den Rabin-Mord sowie einen früheren Vorfall aus dem Jahr 1985, bei dem ein Demonstrant durch eine in die Menge geworfene Handgranate getötet worden war. "Gnade uns Gott, wenn wir dort wieder hinkommen."

Oppositionsführer Jair Lapid wertete die Angriffe auf Demonstranten als direkte Folge von Aussagen des Regierungschefs, der seine Gegner als "Anarchisten" und als Feinde Israels schmäht. "Die Gewalt und das Blut, das in Tel Aviv vergossen wurde, klebt an den Händen von Netanjahu und seinen Abgesandten", erklärte er. Wer die Protestbewegung auf diese Art beschimpfe, der führe "Israel in einen Bürgerkrieg". Auch verschiedene Kommentatoren werfen dem Premier in den Medien vor, die Fronten gezielt zu verhärten. Sie erinnerten daran, dass Netanjahu bereits vor dem Rabin-Mord zu den verbalen Scharfmachern im rechten Lager gehört hatte.

Die Angriffe auf Demonstranten werden als Versuch gewertet, die Protestbewegung einzuschüchtern

Der Regierungschef selbst ließ sich Zeit mit einer Reaktion, bis er schließlich auf Facebook postete, die Polizei solle die Vorfälle aufklären und die Schuldigen zur Rechenschaft ziehen. Er vermied es, die Gewalt gegen Demonstranten zu verurteilen. Stattdessen nahm er selbst die Opferrolle ein und lenkte den Blick auf "Todesdrohungen gegen mich und meine Familie". Als eine "schamlose Drohung mit der Kreuzigung" wertete er dabei auch eine auf dem Tel Aviver Rabin-Platz ausgestellte Kunstinstallation mit dem Titel "Das letzte Abendmahl". In Anlehnung an Leonardo da Vincis Abendmahl-Gemälde war dort Netanjahu allein an einem langen Tisch zu sehen, der mit Köstlichkeiten überladen war. Seine linke Hand greift dabei in eine Torte in Form der israelischen Flagge. Der Künstler Itai Zalait wies bei der Erklärung seines Werks darauf hin, dass Israel "nur einen Moment vom letzten Abendmahl der Demokratie entfernt" sei.

Die Angriffe auf Demonstranten - verbal vonseiten des Regierungschefs, handfest von den Hooligans - werden von Kritikern als Versuch gewertet, die aktuelle Protestbewegung zu delegitimieren oder einzuschüchtern. Dazu passt der Aufruf einer berüchtigten rechten Fantruppe des Fußballvereins Beitar Jerusalem namens La Familia. Deren Mitglieder wurden via Facebook aufgefordert, die Anti-Regierungs-Demonstranten bei den nächsten Protesten mit einer einschlägigen Botschaft zu konfrontieren. "Passt auf, ihr linken Feiglinge", heißt es, "die Spielregeln haben sich von jetzt an verändert."

© SZ vom 31.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: