Israel:Abseits vom goldenen Schein

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„Netanjahu, in einer anderen Liga“: Mit seinem engen Verhältnis zu US-Präsident Trump will Premier Netanjahu bei den Wählern punkten. (Foto: Oded Balilty/AP)

Premier Netanjahu feiert die positive Wirtschaftsentwicklung gerne als persönlichen Erfolg. Dabei leben fast zwei Millionen Menschen in Armut.

Von Alexandra Föderl-Schmid, Tel Aviv

Dieser Satz kommt in den Wahlkampfreden von Benjamin Netanjahu immer vor: "Die israelische Wirtschaft ist eine Erfolgsgeschichte." Seine Erfolgsgeschichte will der rechtsnationale Politiker damit sagen, der nach zehn Jahren im Premierministeramt seine Wiederwahl am kommenden Dienstag anstrebt. Netanjahu verweist gerne auf den Ruf Israels als "Start-up-Nation". Er sieht sich als Garant dafür, dass diese Entwicklung anhält und verbucht die Verbesserung der Wirtschaftslage als persönlichen Erfolg.

Doch bei näherer Betrachtung ergibt sich eine gemischte Bilanz der Ära Netanjahu. Jährliche Wachstumsraten von drei Prozent in den vergangenen zehn Jahren seien "ganz ordentlich", zollt ihm Professor Dan Galai Respekt. Nach Einschätzung des Ökonomen, der an der Hebrew University in Jerusalem lehrt, ist der Wohlstand der meisten Israelis in diesem Zeitraum gewachsen.

Betrachtet man die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf, dann weist Israel eine beeindruckende Entwicklung auf. Laut den Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verzeichnet das Land einen überdurchschnittlichen Anstieg um 45 Prozent im vergangenen Jahrzehnt auf 38 886 US-Dollar. Die OECD konstatiert, dass sich Israel "seit Mitte der Zweitausenderjahre in die erste Hälfte" im Ländervergleich geschoben habe. Aber noch liegt Israel um rund 6000 Dollar pro Jahr unter dem OECD-Durchschnitt. Die Organisation macht vor allem die niedrige Produktivität dafür verantwortlich.

Nach Einschätzung von Ökonomen sind für den Anstieg der Wirtschaftsleistung vor allem zwei Faktoren verantwortlich, die kein Politiker für sich beanspruchen kann: Die hohe Geburten- und Zuwandererrate. Mehr als 1,5 Millionen Juden aus der früheren Sowjetunion wanderten vor allem in den Achtzigerjahren ein. Durchschnittlich drei Kinder hat ein israelisches Paar, bei Ultraorthodoxen sind es sogar sieben Kinder.

Ultraorthodoxe Juden und arabische Israelis, die rund zwanzig Prozent der Bevölkerung ausmachen, gehören zu jenen Bevölkerungsgruppen, denen es wirtschaftlich am schlechtesten geht. Arabische Israelis haben oft Schwierigkeiten, einen Job zu finden, obwohl die Arbeitslosenrate mit 3,7 Prozent in Israel sehr niedrig ist. Streng religiöse Männer wollen ihre Zeit lieber dem Gebet widmen. "Ab drei Kinder steigt das Armutsrisiko", meint John Gal, der den Armutsbericht des Taub Center for Social Policy Studies herausgibt.

Laut dem israelischen Sozialversicherungsinstitut leben 1,8 der knapp neun Millionen Menschen in Israel unter der Armutsgrenze. Vielen reicht ihr Verdienst nicht mehr zu einem ordentlichen Leben. Bei 2800 Euro liegt der Durchschnittsverdienst im Monat. Soviel kosten inzwischen Dreizimmerwohnungen in Tel Aviv.

"Die Frage ist: Wie viel gibt man für die Armee aus? Und wie viel für den Bildungs- und Gesundheitssektor?" - Wirtschaftsprofessor Dan Galai

Die Lebenshaltungskosten sind in Israel höher als im OECD-Durchschnitt. Um ein Viertel liegen die Preise für Nahrungsmittel höher, Transportkosten und Restaurantbesuche sind fast ein Drittel teurer. Die Gesundheitskosten liegen um ein Fünftel über dem OECD-Durchschnitt. Die Preise für Benzin und ein neues Auto sind die fünfthöchsten weltweit.

"Es ist ein Paradoxon. Wir leben angeblich in Israels goldenem Wirtschaftszeitalter und dann können sich viele das Nötigste nicht mehr leisten", sagt Gilles Darmon von der Organisation Latet, die für Bedürftige Nahrungsmittel auftreibt. Er liefert jeden Tag Gemüse für Lasova, eine Suppenküche im Süden Tel Avivs. Hierhin kommen jeden Tag hunderte Israelis, die keinen Wohnsitz haben oder bei denen es trotz eines Einkommens nicht für eine warme Mahlzeit pro Tag reicht. Die OECD warnt vor immer mehr "working poors" in Israel, also Menschen, die arm sind trotz eines Jobs oder einer Rente. "Das sind die Unsichtbaren in Israel, um die sich niemand kümmert", sagt Ravit Reichman, die den Betrieb der Suppenküche managt, mit Blick in den voll besetzten Speisesaal.

Für Wirtschaftsprofessor Galai hat die sichtbare Armut in den vergangenen Jahren abgenommen. "Man sieht nicht mehr so viele Obdachlose und Arme auf den Straßen. Ich sage nicht, dass man nicht mehr tun könnte, aber es ist besser als vor zehn Jahren." Aber auch er fragt sich, ob die Regierung ihr Geld für die richtigen Bereiche ausgebe und die Ressourcen gut verteilt werden. "Ich will das politisch nicht bewerten, aber die Frage ist: Wie viel Geld gibt man für die Armee, für das Westjordanland aus? Wie viel wird in den Bildungs- und Gesundheitssektor gesteckt? Hier müsste man viel mehr investieren."

Netanjahu war zwischen 2003 und 2005 Finanzminister und hat nach Einschätzung Galais "einen hervorragenden Job" gemacht. Unter seiner Führung als Premierminister habe die Politik jedoch häufig Entscheidungen getroffen, "die den Markt und den Wettbewerb kaputt gemacht haben". Galai nennt die Wohnungspolitik, alle paar Jahre werde ein neues Programm aufgelegt. "Man kann nicht arbeiten in einem wirtschaftlichen Umfeld, in dem die Regierung ihre Politik so oft ändert, manchmal sogar rückwirkend. Die Regierung hat die Unsicherheit häufig verstärkt, statt sie zu minieren. Und zwar auf eine Art, die nicht notwendig war und nicht konstruktiv."

Zum Erfolg der Start-ups, mit 6423 die höchste Zahl pro Kopf der Bevölkerung weltweit, meint Galai, dass das ein Verdienst von Vorgängerregierungen war: "In den Achtzigerjahren kam die meiste Unterstützung für kommerzielle Forschung von der Regierung. Jetzt wird fast alles von Privaten finanziert. Das Engagement der Regierung ist marginal."

Zu einer kurz vor der Wahl durchgeführten Umfrage des Israel Democracy Institutes, wonach 26 Prozent der Israelis mit der Wirtschaftspolitik der Regierung sehr unzufrieden sind, meint der Ökonom: "Gejammert wird immer. Es hätte in den vergangenen zehn Jahren noch besser laufen können, aber insgesamt hat sich die israelische Wirtschaft gut entwickelt."

© SZ vom 14.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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