Islam:Angriff auf Atatürk

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Die Idee aus der AKP, der Türkei eine "islamische" Vefassung zu geben, ist eine direkte Attacke auf die Gründungsprinzipien des Landes. Und es würde die Tür zu Europa zuschlagen.

Von Christiane Schlötzer

Artikel 1 der türkischen Verfassung lautet: Die Türkei ist eine Republik. Artikel 2: Sie ist ein demokratischer, säkularer und sozialer Rechtsstaat. Artikel 4: Die Artikel 1 und 2 sind unveränderlich. Klarer geht es nicht. Das dürfte auch Ismail Kahraman wissen, Parlamentspräsident und noch dazu Jurist. Dennoch hat er verlangt, die Türkei sollte sich eine "religiöse Verfassung" geben. Kahraman, führendes Mitglied der Regierungspartei AKP, handelte nach dem Motto: Man kann ja mal einen Luftballon steigen lassen, auf dem "Scharia" steht - und sehen, was passiert. Einen spektakuläreren Tabubruch hat es in der Türkei lange nicht gegeben.

Mit den unveränderbaren Prinzipien der Verfassung hat sich Republikgründer Kemal Atatürk vor bald 100 Jahren sein eigenes Vermächtnis geschrieben. Atatürk wusste, was er tat. Er kehrte die Scherben des Osmanischen Reiches zusammen, Arabien war verloren, seine Bewunderung galt dem Westen, dem technischen Fortschritt. Religion, egal welche, wünschte Atatürk "auf den Grund des Meeres". Also weg mit dem Kalifat, weg mit der Scharia. Ohne diese Radikalität ihres Republikgründers wäre die Türkei heute womöglich ein zweiter Iran, ein Gottesstaat, in diesem Fall sunnitischer Prägung. Aber keinesfalls in der Nato, schon gar nicht EU-Kandidat und auch nicht das im ganzen Nahen Osten bewunderte Wirtschaftswunderland.

Der Kemalismus hat der Türkei viel gebracht; und sie viel gekostet

Für den "Kemalismus" aber hat die Türkei auch einen Preis bezahlt. Dazu gehören ein ausgeprägter Nationalismus und das Entstehen einer Elite, die ihrem Volk nie verzieh, dass es mehrheitlich weiter religiös blieb. Daraus nährten sich gegenseitige Verachtung und Distanz. Da musste irgendwann ein Volkstribun wie Recep Tayyip Erdoğan kommen, der den Spieß umdreht und mit Religion Politik macht.

Im eigenen Land ist die von Erdoğan erschaffene konservativ-islamische AKP damit weit gekommen. Sie hat seit 2002 alle Wahlen gewonnen, hat aus Kopftuchstolz und Kapitalismus ein robustes Erfolgsrezept geformt. Die Strahlkraft dieses Modells mit neo-osmanischem Kolorit hinein in die muslimische Welt ist allerdings weit geringer, als Erdoğan sich das erträumt hat. Gäbe sich die Türkei eine religiöse Verfassung, würde sie in Teilen der islamischen Welt damit punkten. EU und Europa aber könnte sie dann vergessen.

Im Istanbuler Gezi-Park hat die protestierende Jugend vor drei Jahren Atatürk-Bilder in die Bäume gehängt, als wollte sie den republikanischen Übervater als Schutzpatron anrufen. Erdoğan hat den nassforschen Verfassungsreformer Kahraman jetzt zurückgepfiffen. Die Kritik an dessen Tabuverletzung war laut und heftig. Erdoğan will noch immer die Verfassung ändern, um seine Macht als Präsident so auszubauen, dass die Regierung eigentlich nicht mehr nötig ist. Dazu aber bräuchte er auch Stimmen der Opposition im Parlament, die der AKP reichen dafür nicht. Wollte er Allah Verfassungsrang geben, bekäme er diese Stimmen nie - stattdessen aber einen blutigen Bürgerkrieg um den Bestand der säkularen Republik.

© SZ vom 28.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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