Interpol jagt nicht, Interpol fahndet nicht. Schon gar nicht zwingt Interpol anderen Polizeibehörden auf der Welt seinen Willen auf. Es ist ein verbreitetes Missverständnis, dass Interpol über viel eigene Macht verfügen würde - genährt vielleicht auch durch die Ehrfurcht gebietende Zentrale der Organisation, einen gläsernen Prunkbau, der in der französischen Stadt Lyon über die Ufer der Rhône ragt wie eine futuristische Burg.
Vielmehr ist die 1923 gegründete internationale Kriminalpolizei-Organisation ein Dienstleister von 190 höchst unterschiedlichen, aber durchgehend sehr selbstbewussten Herren. Beinahe alle Staaten der Erde sind Mitglieder. Interpol fungiert nur als Tauschbörse für Informationen und Anfragen unter deren Ermittlungsbehörden. Der Auftrag lautet: die souveränen Entscheidungen der 190 Mitgliedsstaaten unterstützen, nicht sie vorwegnehmen. Wo möglich, vermeidet Interpol deshalb eine eigene Position. So bleibt die Souveränität bei den Mitgliedsstaaten, aber auch die politische Verantwortung.
Im Fall des deutsch-türkischen Schriftstellers Doğan Akhanlı war es die Türkei, Interpol-Mitglied der ersten Stunde, die eine Anfrage nach Lyon schickte. Nach SZ-Informationen bereits am 21. Oktober 2013 ließ der türkische Staat mitteilen, dass man nach Akhanlı fahnde. Man bitte weltweit um Mithilfe. Der Fall wurde ins System aufgenommen, er bekam den Farbcode rot ("red notice"), was die höchste Dringlichkeitsstufe anzeigt: Mitgliedsstaaten werden gebeten, nicht nur Informationen zu sammeln, sondern zuzugreifen. Die Person soll festgenommen werden, damit sie ausgeliefert werden kann.
Eine Sperre gegen autoritäre Regimes gibt es bei Interpol nicht
Nun verlangt das Interpol-Statut eine politische Prüfung von den Beamten in Lyon. Weil Interpol zu strikter Neutralität verpflichtet ist, muss nach Artikel 3 des Statuts ausgeschlossen werden, dass ein Mitgliedsstaat die Interpol-Mechanismen zur Verfolgung von Regimegegnern missbraucht. Bei Akhanlı hätte das nahegelegen, zumal die Türkei im vergangenen Jahr in Tausenden Fällen versucht hatte, andere Staaten via Interpol für die Verfolgung vermeintlicher Terroristen einzuspannen. Erst als die Interpol-Spitze - was sehr selten vorkommt - protestierte, zog Ankara viele Anfragen zurück.
Dem Schriftsteller Akhanlı warfen die türkischen Behörden vor, er habe im Jahr 1989 eine Wechselstube überfallen, um Geld für die bewaffnete Terrororganisation THKP zu erbeuten, und dabei einen Raubmord begangen. Die vielen Zweifel an diesem Verfahren erregten schon 2010 Aufsehen (siehe Bericht oben). Hätte die Interpol-Zentrale dies berücksichtigt, hätte sie der "red notice" einen sogenannten Artikel-3-Hinweis hinterherschicken müssen, eine Warnung, dass man das Ersuchen mit besonderer Vorsicht prüfen solle. Eine Sperre gegen bestimmte Staaten gibt es bei Interpol nicht. Selbst bei autoritären Staaten bleiben alle Mitglieder daran interessiert, dass sie vom Austausch nicht grundsätzlich abgeschnitten werden.
In Deutschland mussten die Behörden die Anfrage nicht lange prüfen
Im Fall von Akhanlı hat Interpol das offenbar versäumt. So oder so bleibt die Pflicht zur sorgfältigen juristischen Prüfung aber bei den Staaten: Jeder entscheidet für sich, ob er einen "red notice" ins nationale Fahndungssystem übernimmt. In Deutschland ist das Bundesamt für Justiz zuständig, in Absprache mit dem Auswärtigen Amt. In Fällen mit Artikel-3-Hinweis muss sogar ein Staatssekretär im Bundesjustizministerium die Entscheidung abzeichnen, diese Regel wurde 2015 eingeführt.
Einen "internationalen Haftbefehl", der wirklich verbindlich wäre, gibt es nicht. Nur im engeren Klub der Europäischen Union existieren gemeinsame Haftbefehle, in Deutschland gültig seit 2006. Sie sind überall in der EU vollstreckbar. Da die Türkei kein EU-Mitglied ist, kam dieses Mittel für sie aber nicht infrage. Als die Interpol-Anfrage zu Akhanlı die deutschen Behörden erreichte, im Oktober 2013 und angeblich ein weiteres Mal im Jahr 2015, mussten diese den Fall nicht lange prüfen. Der Schriftsteller ist deutscher Staatsbürger. Deutsche werden nur innerhalb der EU oder an internationale Strafgerichtshöfe ausgeliefert.
Deutschland hätte Akhanlı warnen können
Entscheiden mussten die Deutschen nur, ob sie Akhanlı warnen sollten. In anderen Fällen in den vergangenen Monaten, in denen deutsche Sicherheitsbehörden von Ambitionen Ankaras erfuhren, vermeintliche Erdoğan-Gegner zu verfolgen, rückten Landeskriminalämter schon zur vorsorglichen "Gefährdeten-Ansprache" aus. Der Anwalt von Akhanlı, Ilias Uyar, kritisierte am Montag: "Wir haben keinerlei Hinweise erhalten. Wir wissen nicht, wieso er nicht gewarnt wurde." Das Bundesinnenministerium deutete zur Begründung an, dass über seinen Fall 2013 ja bereits breit in den Medien berichtet worden sei. Man hätte Akhanlı also kaum Neues erzählt.
Als die Anfrage aus Ankara die spanischen Behörden erreichte, hätten diese genau prüfen müssen, sie haben den politischen Charakter der Anfrage aus Ankara aber womöglich verkannt. Das geschieht im Umgang mit Interpol immer wieder. Die Deutschen bekommen oft Anfragen aus Ankara, inzwischen kennen sie sich dementsprechend gut aus, wenn die türkischen Kollegen via Interpol angebliche Terror-Splittergruppen und Anschläge benennen. Ein Jurist, der mit den Abläufen in der Interpol-Zentrale vertraut ist, gibt zu bedenken, dass dies in Spanien anders ist. Madrid habe dafür mehr Erfahrung mit Lateinamerika.