Eine "Weiterentwicklung" der Integrationspolitik haben die Forscher des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration zur Bundestagswahl im September gefordert. Thomas Bauer leitet den Sachverständigenrat. Die Frage ist, ob die beschlossene große Koalition aus CDU, CSU und SPD die Forderung des Rates einlösen wird.
SZ: Herr Bauer, von 179 Seiten Koalitionsvertrag behandeln sechs die Zuwanderung. Wird das dem Thema gerecht?
Thomas Bauer: Es war nicht anders zu erwarten. In Koalitionsverhandlungen kann nicht alles im Detail geregelt werden.
Geht das, was geregelt wird, in die richtige Richtung?
Wir im Sachverständigenrat sehen durchaus Licht, aber stellenweise auch Schatten und Klärungsbedarf in den Details. Es wird viel davon abhängen, wie die Beschlüsse umgesetzt werden.
Wo sehen Sie denn Licht?
Wir begrüßen etwa, dass die künftige Koalition die Zuwanderung von Fachkräften umfassender regeln will - wobei wir dafür plädieren, eine Art Einwanderungsgesetzbuch anzustreben. Das würde klarmachen, was Deutschland überhaupt noch regeln kann und regeln muss. Das ist gar nicht mehr so viel. Für den Zuzug haben wir ja schon die im internationalen Vergleich liberalsten Regeln. Aber das ist den wenigsten bekannt.
Der Koalitionsvertrag sieht ja ein Einwanderungsgesetz vor - allerdings nur zur Zuwanderung von Arbeitskräften.
Es sollten aber alle Formen der Zuwanderung in einem solchen Einwanderungsgesetzbuch erfasst werden. So könnte man leichter sehen: Wo wirkt das zusammen? Ein Beispiel: Sie können nicht Regeln für zuwandernde Fachkräfte aufstellen, ohne über den Nachzug ihrer Familien nachzudenken. Zuwanderung von Fachkräften, von Bürgern anderer EU-Staaten, von Studierenden, die wir am liebsten im Land halten wollen, von Familienangehörigen, von Flüchtlingen - das kann man nicht unabhängig voneinander betrachten. Darum wäre es am besten, wenn man alles in einem Regelwerk zusammenschreibt.
Wo genau müsste denn im deutschen Zuwanderungsrecht noch etwas geändert werden?
Was Deutschland selbst noch regeln kann, ist relativ wenig. Auch in der Flüchtlingspolitik gibt es ja Regelungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention. Davon will die künftige Koalition auch nicht abweichen. So viel Spielraum gibt es daher gar nicht.
Zu den Flüchtlingen nennt der Koalitionsvertrag ja Zahlen. Mehr als 180 000 bis 220 000 Menschen pro Jahr sollen nicht ins Land kommen. Ist das realistisch?
In Normalzeiten durchaus. Wir leben im Moment aber nicht in Normalzeiten. Ich interpretiere das als Zielkorridor. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass der 220 001. Flüchtling abgewiesen wird. Das muss flexibel gehandhabt werden, um auf Notsituationen, wie wir sie 2015 hatten, reagieren zu können.
Damals kamen knapp eine Million Menschen. Die sind nun hier, müssen sich integrieren und integriert werden. Die künftigen Koalitionäre versprechen viel Geld dafür. Reicht das?
Da sehen wir im Koalitionsvertrag noch einen gewissen Schatten. Aus unserer Sicht wird die Frage der Integration hier zu sehr aus der Perspektive der Flüchtlingszuwanderung betrachtet. Die ist zwar eine große Herausforderung, vor allem aber sollte man daran denken, dass jeder fünfte Mensch in Deutschland einen Migrationshintergrund hat. Der Koalitionsvertrag hätte eine Bühne dafür geben können, deren Beitrag zur Gestaltung dieses Landes besser zu würdigen und etwas mehr Zuversicht zu signalisieren, dass Integration sehr gut gelingen kann, diese Erfahrung haben wir ja schon gemacht. Bei Integration muss es um Teilhabe gehen - und zwar in dem Sinne, dass man sie als Querschnittsaufgabe aller Ressorts ansieht. Sie kann nur gelingen, wenn sie sich um alle kümmert, also nicht nur um die Flüchtlinge, nicht nur um Menschen mit Migrationshintergrund, sondern um alle, die gewisse Probleme haben. Das fängt bei der Bildung an und hört beim Wohnen in den Städten nicht auf. Wir raten eher dazu, die Regelsysteme für alle anzupassen, als Sonderprogramme für Zuwanderer aufzulegen.
Thomas K. Bauer, 49, lehrt als Professor Empirische Wirtschaftsforschung an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2016 leitet der Ökonom den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration.
Deutet nicht der Streit um die Essener Tafel darauf hin, dass es längst einen Verteilungskampf gibt zwischen den Zuwanderern und bedürftigen Einheimischen?
Es wäre falsch von einem bundesweiten Verdrängungskampf zu sprechen. Lokal kann es sicherlich Konkurrenzsituationen geben. Insgesamt jedoch sind Befürchtungen, dass Einheimische aufgrund der Fluchtzuwanderung zurückstecken müssten, unbegründet. Aus vielen Studien wissen wir, dass auf dem Arbeitsmarkt Zuwanderer keineswegs die Einheimischen aus den Jobs drängen. Anders ist es bei Wohnungen, die in den Städten nicht auf die Schnelle bereitgestellt werden können. Aber auch da stehen Flüchtlinge in der Regel ganz am Ende der Schlange. Dennoch muss die Politik die Bedrohungsängste in der Bevölkerung natürlich ernst nehmen.
Asylverfahren sollen laut dem Koalitionsvertrag effizienter werden. Das soll künftig in neuen Ankunfts- und Entscheidungszentren geschehen. Was halten Sie davon?
Wenn diese Zentren dazu führen, dass Verfahren schneller, rechtssicherer und effizienter werden, ist das zu begrüßen. Aber es ist auch darauf zu achten, dass man die Integration nicht ausbremst. Es liegt uns im Sachverständigenrat besonders am Herzen, dass Kinder und Jugendliche nach spätestens drei Monaten garantiert beschult werden. Das ist in Deutschland bei Weitem noch nicht flächendeckend gewährleistet.
Die künftige große Koalition will nicht anerkannte Flüchtlinge schneller in ihre Heimat zurückschicken. Geht das denn so einfach?
Natürlich muss, wer abgelehnt wird und nicht freiwillig geht, zurückgeführt werden. Sonst gefährdet man das ganze System. Dabei sollte die Rolle der EU gestärkt werden. So plädieren wir für EU-weit geltende Listen sicherer Herkunftsstaaten.
Und was ist mit denen, die nicht abgeschoben werden können?
Sie sollten möglichst schnell Zugang zu Integrationsmaßnahmen haben, eben weil wir nicht wissen, wie lange sie bleiben werden. Integration funktioniert freilich nur, wenn sie irgendwann die Aussicht haben, bleiben zu dürfen. Wer nach längerem Aufenthalt Deutsch kann, Arbeit hat, nicht als kriminell aufgefallen ist, sollte auch hier leben dürfen, damit ist allen geholfen.