Familie ist etwas Wunderbares. Sie bietet sicheren Halt in unruhigen Zeiten und auch dann einen Hort der Geborgenheit, wenn alle Welt garstig ist und die Stacheln ausfährt. Kein Wunder, dass Ärzte und Psychologen schon zahlreiche Argumente dafür gefunden haben, warum das wärmende Nest der Familie unbedingt gesund ist und obendrein dem Seelenheil guttut. Allerdings hat die vertraute Nähe ihren Preis: Bei einem Notfall dauert es im engsten Kreis länger, bis ein Arzt gerufen und der Patient ins Krankenhaus gebracht wird. Wer einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erleidet, ist besser dran, wenn er von Arbeitskollegen oder entfernten Bekannten umgeben ist.
Neurologen aus Harvard und St. Louis zeigen im Fachmagazin Nature Communications mithilfe einer Netzwerkanalyse, warum eine gewisse Distanz gesundheitlich von Vorteil sein kann. Demnach kamen Patienten mit Schlaganfall früher in die Klinik, da Kollegen und auch Fremde nicht lange zögerten, als Beschwerden einsetzten. In der Behandlung von Schlaganfall und Herzinfarkt kommt es auf jede Minute an, um weitere, manchmal irreparable Hirnschäden zu vermeiden oder den Opfern gar das Leben zu retten.
Schädlicher Alkoholkonsum:Alkohol darf nicht länger verharmlost werden
Werden Wein, Whisky und Prosecco weiterhin als Kulturgut geadelt und nicht als Bedrohung verstanden, lassen sich Gesundheitsschäden, etwa bei Neugeborenen, auch künftig kaum vermeiden.
"In medizinischen Notfällen spielt die soziale Umgebung eine paradoxe Rolle", schreibt das Team um Amar Dhand, den Hauptautor der Studie. "In der Familie bestärkt man sich eher gegenseitig darin, zunächst abzuwarten." Manchmal würde auch erst zu lange diskutiert oder die Symptomatik verharmlost, anstatt unverzüglich den Arzt zu rufen.
Sind hingegen die Bindungen schwächer, werden unterschiedliche Ideen eher zugelassen und abweichende Meinungen respektiert - im konkreten Fall, dass hinter dem Aussetzer des vitalen 60-Jährigen vielleicht nicht nur Kreislaufschwäche, sondern etwas Ernstes stecken könnte und schnell der Arzt alarmiert werden sollte. Die Familie fungiert im Gegensatz dazu oft als Echokammer, in der man sich schnell einig wird, dass es sich um nichts Akutes handelt. "Pluralistische Ignoranz" oder "Illusion der Mehrheit", nennen Forscher dieses Phänomen.
"Familienangehörige glauben, aus ihrer langjährigen Kenntnis der Familie zu wissen: Das wird schon nicht so schlimm sein", sagt Michael Kochen, langjähriger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin. "Das relative Unwissen von Arbeitskollegen oder entfernten Bekannten in Bezug auf den Erkrankten fördert hingegen die Einstellung: Da holen wir sicherheitshalber den Arzt."
Allgemeinarzt Kochen hat allerdings verschiedene Erlebnisse mit Angehörigen gehabt: Es gibt auch den überbehütenden Typus, der lieber früher als später einen Arzt ruft. Gerade für Menschen mit Vorerkrankungen kann das ein Segen sein. Sind sie im Ernstfall von engen Vertrauten umgeben, die Beschwerden richtig einschätzen und entsprechend handeln, profitieren sie von früher Hilfe.
Gegenteilige Befunde sind vielleicht eher ein Indiz für schwierige Familienverhältnisse. In einer Studie an 1100 Patienten mit Brustenge untersuchten Mediziner, wie schnell Hilfe gerufen wurde. Kollegen alarmierten schon nach 19 Minuten den Arzt, Familienangehörige erst nach 30 Minuten. Ehepartner ließen sich zähe 35 Minuten Zeit.