Indien:Saat der Gewalt

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Mit Traktoren und Zugwagen sind sie aus dem inneren Punjab-Gebiet nach Delhi gekommen: Bauern protestieren gegen eine Freigabe der Preise für ihre Produkte, sie fürchten um ihre Existenz. (Foto: NARINDER NANU/AFP)

Bauern rebellieren gegen eine Freigabe der Preise für landwirtschaftliche Produkte. Zunächst werden sie mit Stacheldraht und Tränengas von der Hauptstadt ferngehalten.

Von David Pfeifer, München

Der Konflikt zwischen den indischen Bauern und der Regierung erreichte Delhi von mehreren Seiten gleichzeitig. Am Freitagmittag meldeten indische Nachrichtenportale, dass die Polizei von Delhi den Protestierenden Einlass in die Hauptstadt gewährt. Vermutlich auch gewähren musste. Alleine an der Grenze zwischen Punjab und Delhi hatten sich bis zu dem Zeitpunkt Zehntausende Demonstranten eingefunden, mit Wagen und Zelten, sie sahen aus wie ein riesiger Siedlungstreck. Die dramatischen Bilder an den diversen Provinzgrenzen laufen seit Mittwoch im indischen Fernsehen. Zuerst wurden Demonstranten mit Barrikaden und Stacheldraht gebremst und mit Wasser und Tränengas beschossen, während ihre Traktoren und Lieferwagen Straßen und Brücken blockierten. Selten sah man dabei einen Mundschutz.

Ausgelöst wurden die Proteste schon im September, nachdem die regierende Bharatiya Janata Party (BJP) neue Gesetze bekannt gegeben hatte, die einen jahrzehntelangen Schutz der Bauern aufheben: Der Staat regelte quasi wie ein Großhändler die Preise. Die Reform führt dazu, dass der Verkauf, die Preisgestaltung und Lagerung von Landwirtschaftsprodukten liberalisiert wird. Die BJP kam 2014 wieder an die Macht, auch mit dem Versprechen, die Zukunft der Bauern zu sichern. Die Mindestpreise sollten verbessert, ihr Einkommen bis zum Jahr 2022 verdoppelt werden. Tatsächlich aber sank das Einkommen der Bauern, trotz Rekordernten in den Jahren 2019 und 2020. Es kam zu Protesten, bei denen medienwirksam Ernten verbrannt wurden. Etwa 150 Millionen Bauern gibt es in dem riesigen Land.

Die neuen Gesetze wollte die Regierung zunächst als Freiheiten verkaufen, da die Bauern nun selbstständig die Preise gestalten könnten. Doch die Protestierenden fürchten, dass der unregulierte Handel dazu führen wird, dass die Großbauern sich bei den Konzernen mit Dumpingpreisen unterbieten werden und die kleinen Betriebe nicht mehr wettbewerbsfähig sind. So sieht es auch die Opposition und sogar Teile der BJP. Auch Rahul Gandhi, Enkel von Indira Gandhi und Urenkel von Indiens erstem Premierminister Jawaharlal Nehru, bekundete Sympathien für den Bauernaufstand auf Twitter, unter dem Hashtag #Imwithfarmers. Gandhi soll bald wieder Vorsitzender der oppositionellen Kongresspartei werden.

Seit September kampieren die Bauern in den Bundesstaaten Haryana, Uttar Pradesh und Uttarakhand, die alle drei von der BJP regiert werden. Mehr als 100 Anführer wurden in den vergangenen Tagen vorläufig festgenommen, um den Protest nicht eskalieren zu lassen. Offensichtlich ohne Erfolg. Bis zum Donnerstag hatten sich Zehntausende auf den Weg zum Regierungssitz gemacht. Der Indian Express schrieb: "Die Zahlen werden über Nacht weiter steigen, denn schon sind Tausende Traktoren und Zugwagen aus dem inneren Punjab-Gebiet auf dem Weg, in denen die Bauern, ihre Frauen und ihre Kinder sitzen."

Der Freitagmorgen begann dann damit, dass die ersten Protestierenden Barrikaden überwanden, die die Polizei um Delhi herum aufgebaut hatte. Das Online-Magazin The Scroll erwähnte, dass das National Crime Records Bureau 10 281 Suizide unter Bauern alleine im Jahr 2019 registriert hat - eine Anfrage an die Regierung, wie sich die Zahl in diesem Sommer entwickelt hat, nachdem Hunderttausende Wanderarbeiter wegen der Corona-Pandemie zunächst im Lockdown strandeten und das Virus dann in die Provinzen trugen, blieb unbeantwortet. Freitagnachmittag übertraten die Demonstranten die Grenze nach Delhi, um ihren "friedlichen Protest" auszudrücken, wie die Polizei mitteilte. Sie dürfen sich im Nirankari-Park versammeln, der 230 000 Quadratmeter groß ist, etwa so wie 30 Fußball- oder 15 Kricket-Felder. Es ist nicht anzunehmen, dass die Bauern die Hauptstadt wieder verlassen werden, ohne einen Sieg mitzunehmen.

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