Unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs legte die Königliche Bibliothek in Berlin eine Sondersammlung an: "Krieg 1914". Sie sollte alle "aus dem Krieg hervorgegangenen Druckschriften" beschaffen und unter Bruch der geläufigen Katalogisierungsregeln zusammenstellen. Auch andere Länder bauten vergleichbare Bestände auf.
Sie bilden nun einen Grundstock der Internetseite europeana1914-1918.eu, die in der vergangenen Woche unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit freigegeben wurde. Genauer: freigegeben wurden die Dokumente, die zwölf große europäische Bibliotheken, dazu Museen und Archive bereitgestellt haben. Das Material von privater Seite konnte früher schon inspiziert werden.
Es ist ein gewaltiges Material zum Ersten Weltkrieg, das hiermit kosten- und rechtefrei zur Verfügung steht. Die neue Forschungsliteratur gehört nicht dazu, sie steht ja noch unter Urheberrechtsschutz. Und auch einzelne wichtige Dokumente der Kriegszeit fehlen, zum Beispiel das "Manifest der 93".
Symbolträchtige Haushaltswaren
Im September 1914 hatten 93 deutsche Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler einen Aufruf "an die Kulturwelt" veröffentlicht, in dem sie ihr Land gegen den Vorwurf barbarischer Kriegsführung verteidigten. Zu den Unterzeichnern gehörten Gerhard Hauptmann, Max Liebermann und Max Planck. Da Plancks Tod im Jahre 1947 keine siebzig Jahre zurückliegt, ist der gemeinsame Text noch nicht gemeinfrei.
105-jährige Zeitzeugin:Was die Schülerin Trudl vom Ersten Weltkrieg mitbekam
Kaiser Wilhelm II. herrscht über die Deutschen, als Gertrud Dyck 1908 in Berlin geboren wird. Sie kommt in die Schule, als der Erste Weltkrieg ausbricht. Ist Mutter, als der Zweite Weltkrieg tobt. Eine 105-Jährige erinnert sich.
Zwei Zugänge bietet die Seite. Man kann aufs Geratewohl stöbern und sich für eines von 17 Startkapiteln entscheiden. Man wählt eine Dokumentenart aus wie Filme oder Tagebücher, ein "Thema" wie Frauen oder Propaganda, oder einen Kriegsschauplatz. Innerhalb dieser Kapitel ist das Material allerdings nicht geordnet - und wie könnte eine solche Ordnung auch aussehen?
Man klickt sich durch das Angebot, wie man auf einem vollgerümpelten Dachboden wühlt, und macht über kurz oder lang seine Entdeckungen. So findet sich im Kapitel Frauen eine eiserne Pfanne mit der Umschrift "Der deutschen Hausfrau Opfersinn/gab Kupfer für das Eisen hin". Am Griff der Pfanne reichen sich Soldat und Hausfrau die Hände.
Weltkrieg im Mathebuch
Daneben gibt es auch ein Fenster, mit dem man nach bestimmten Begriffen suchen kann. Wer schon eine Vorstellung hat, was ihn interessieren könnte, wird schnell fündig. Die Staatsbibliothek Berlin hat eine kleine Ausstellung zum Thema aufgebaut. Von ihr angeregt kann man zum Beispiel nach Rechenbüchern für Schulkinder suchen. Sie stammen aus den Beständen der Staatsbibliothek, sind vollständig digitalisiert, und stehen zur Lektüre von vorn nach hinten zur Verfügung.
Dass der Schulunterricht die Zeitumstände aufgriff, überrascht nicht. Aber die Details sagen viel. Das Ergänzungsheft zum "Niederrheinischen Rechenbuch" gibt auf, die Entwicklung von Kohlenförderung und Roheisenproduktion in Deutschland und England zwischen 1888 und 1914 zu berechnen, und siehe, die deutschen Zahlen steigen stärker als die englischen. Die Aufgabe steht unter der Überschrift "Die Ursachen des Weltkriegs": So sollte den Kindern klargemacht werden, dass Deutschlands wirtschaftlicher Aufstieg den Neid der Gegner geweckt habe.
In einem anderen Schulbuch ist der Rückgang der Sterblichkeit in den Krieg führenden Staaten zu berechnen, um Deutschlands zivilisatorische Sendung zutage treten zu lassen. Und auch die hiesigen Sozialleistungen geben schöne Übungen ab: "Wie kann ein Kriegsinvalide zu eigenem Haus und Herd gelangen?"
Das Material, das Bibliotheken und Archive bereitstellen, ist (meist, aber nicht immer!) professionell erschlossen. Das kann man von den Erinnerungsstücken, die Privatleute beigetragen haben, nicht durchweg erwarten. Inzwischen stehen 90 000 dieser Stücke im Netz, und die Zahl wird stark steigen, nachdem die breite Öffentlichkeit Kenntnis von dem Projekt bekommen hat.
Allein bei den Berliner Aktionstagen der letzten Woche wurden 10 000 neue Dokumente präsentiert und gescannt. Sie werden demnächst verfügbar sein. Was vielleicht noch wichtiger ist: Seit vergangenem Mittwoch kann man seine gescannten Dokumente auch online vorlegen, statt einen der Aktionstage besuchen zu müssen, um dort seine Dinge zu zeigen, zu erläutern und fotografieren oder scannen zu lassen.
Bei unseren europäischen Nachbarn war das Interesse bislang größer als hierzulande, in Großbritannien und Frankreich vor allem und noch mehr in Irland, wo der I. Weltkrieg zur Vorgeschichte der Staatsbildung gehört. Die Deutschen entdecken gerade ihr Interesse an den Jahren 1914-18, und wenn sie sich melden, so haben sie oft umfangreiche Bestände vorzuweisen. Die Sorge, hier werde aufkochenden Nationalgefühlen oder gar der Kriegsverherrlichung ein Tor geöffnet, ist wohl unberechtigt, die bislang gemachten Erfahrungen sind ermutigend.
Wohl wird das Material, das nun online eingereicht werden kann, von Administratoren geprüft, bevor es öffentlich zugänglich gemacht wird. Aber Frank Drauschke, der Geschäftsführer der Firma Facts & Files, die mit der Organisation der privaten Einlieferungen betraut ist, glaubt, dass man auf eine solche Sicherung fast verzichten könnte.
Urkunden, Bierhumpen und Scherzpostkarten
Und was ist es, was Familien zur Erinnerung beisteuern können? Der Quellenwert ist sehr unterschiedlich. Eine Urkunde des Königreichs Belgien, eine Ordensverleihung beglaubigend, zeigt im Vordergrund einen Soldaten auf Posten, im Hintergrund eine der völlig verwüsteten Landschaften Flanderns in blass-kalten, dabei giftigen Farben, eine in diesem Zusammenhang verwirrende Aufnahme der expressionistischen Kunst.
Erster Weltkrieg:Wahnsinn Westfront
Bald nach Kriegsbeginn 1914 erstarrte die Westfront. Von der Kanalküste bis zur Schweizer Grenze gruben sich die Deutschen ein, ebenso Franzosen, Briten und deren Verbündete auf der anderen Seite. Was folgte, war ein Novum: Der Einsatz von Giftgas, Panzern und Artillerie tötete Hunderttausende.
Solche aussagestarken Stücke sind nicht der Regelfall. Vieles, was privat aufgehoben wurde, fällt ins Kuriose, Bierhumpen oder Scherzpostkarten zum Beispiel. Aber auch das ist charakteristisch. Und zuletzt geht es nicht allein um die Verbreiterung der Quellenbasis für wissenschaftliche oder pädagogische Zwecke. Dass ein jeder die Erinnerung seiner Familie öffentlich machen kann, hat offenbar etwas Befreiendes.
Während der jüngsten Aktionstage in der Berliner Staatsbibliothek fanden sich erstaunlich viele Menschen ein, die meisten augenscheinlich Rentner, die bereit waren, drei, vier Stunden zu warten, um ihre Familiengeschichte vorzutragen. Sie wollten erzählen, was sie von Eltern und Großeltern gehört hatten, um sicherzugehen, nicht die letzten Zeugen dieser Familiengeschichten zu sein.