Hilfe für syrische Flüchtlingsströme:Nachbarländer am Rande des Zusammenbruchs

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Im Flüchtlingslager Zaatari im Norden Jordaniensleben über 115 000 syrische Flüchtlinge. (Foto: REUTERS)

Der Schrecken des syrischen Bürgerkriegs hat bereits mehr als zwei Millionen Flüchtlinge in die Nachbarländer getrieben: Sie brauchen Wasser, Strom, Essen und Wohnraum. Doch in einigen Ländern sind die Grenzen der Hilfe erreicht - der Kollaps ist unausweichlich.

Von Tomas Avenarius

Azzam steht zwischen den Zelten, stinkendes Abwasser schlängelt sich an seiner Behausung vorbei, sein kleiner Sohn hängt ihm am Bein. Der stoppelbärtige Syrer aus einem der umkämpften Vororte von Damaskus sagt: "Wenn die bei den Friedensgesprächen in Genf etwas erreichen, bin ich am nächsten Tag auf dem Weg nach Hause."

Azzam wird noch lange warten in seinem Flüchtlingslager in Libanon, denn bei den Friedensgesprächen in Genf tut sich ein Abgrund auf zwischen den syrischen Kriegsparteien. Dem 32-Jährigen bleibt nichts anderes als Lagerelend und ein Flüchtlingsleben ohne Perspektive auf Besserung.

Die Angst vor den Fluchtwellen

Menschliches Leid ist das eine, der drohende Kollaps der Nachbarstaaten das andere: Mehr als sechs Millionen Syrer sind auf der Flucht. Mehr als vier Millionen Männer, Frauen und Kinder irren im Land umher, 2,4 Millionen von den Vereinten Nationen (UN) registrierte Flüchtlinge haben die Grenzen bereits überquert. Weitere werden folgen. Libanon, der Irak, Jordanien und die Türkei leiden unter einer der schlimmsten Fluchtwellen seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Nachbarn, allen voran der winzige Libanon, drohen wirtschaftlich zusammenzubrechen.

Allein in Libanon mit seinen vier Millionen Einwohnern sind rund 900 000 syrische Kriegsflüchtlinge registriert - das entspricht einem Zuwachs um fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Umgerechnet auf Deutschland wären das 17 bis 20 Millionen Menschen, die ernährt werden müssten, die ein Dach über dem Kopf bräuchten, die ihre Kinder zur Schule schicken möchten. Aus Sicht der Nachbarn erscheint das Flüchtlingsdrama als existenzielle Gefahr. Ein Beiruter Spitzenpolitiker sagt: "Wir haben die Grenzen unserer Belastbarkeit erreicht."

Da der Bürgerkrieg möglicherweise noch Jahre dauert, wird die Zahl der Vertriebenen weiter steigen. "Bisher hielt Afghanistan mit rund drei Millionen den Weltrekord", sagt Hans ten Feld, Leiter des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Deutschland. "Syrien könnte das übertreffen. Wir befürchten, dass die Zahl bis Ende 2014 auf vier Millionen Menschen wächst." Die Folge: Libanon, chronisch instabil nach seinem 15 Jahre dauernden Bürgerkrieg, könnte zusammenbrechen.

In Jordanien ist es ähnlich: Das für seine relative Ruhe ebenso wie für seinen Wassermangel bekannte Jordanien ist jetzt schon überlastet. In beiden Staaten fehlt es an Trinkwasser, Strom, Schulen, Kliniken, Wohnraum, Arbeitsplätzen; schon bevor im Sommer 2011 die ersten Syrer kamen, war die Situation kritisch: Die Infrastruktur trägt den Zuwachs nicht.

Große Gefahren für das Gleichgewicht der Gesellschaften

Zudem stören die Fremden die im Nahen Osten alles entscheidende demografische Balance zwischen den religiösen und ethnischen Gruppen. Das austarierte Gleichgewicht der Gesellschaften verrutscht, innenpolitische Konflikte brechen auf. Die syrischen Flüchtlinge sind arabische Sunniten, dazu kommen im Irak noch Kurden. Sie bringen in Libanon die Religionsgruppen in Bedrängnis: Das Land besteht aus einem Mosaik von 18 zum Teil verfeindeten Religionen.

Dazu kommen die mehr als 400 000 Palästinenser, Flüchtlinge aus den Nahostkriegen seit 1948. Sie leben bis heute in Lagern, haben nur eingeschränkte Bürgerrechte. Selbst Israel muss den syrischen Flüchtlingsstrom fürchten. Irgendwann könnten die Fremden auch an die Grenze der von Israel besetzten Golanhöhen drängen: Wegen Syrien kann der gesamte Nahen Osten im Chaos versinken.

All das spielt sich am Mittelmeer ab, in Reichweite Europas. Die syrische Katastrophe - die Flüchtlinge und der drastische Anstieg des militanten Dschihadismus -, kann von der EU nicht ignoriert werden. "Was in Syrien geschieht, wird auch Europa und Deutschland treffen", sagt Jordaniens Innenminister Hussein al-Majali. "Ich betreibe keine Angstmache, aber diese Menschen haben Bewegungsfreiheit."

Der Finanzbedarf ist enorm. Bei einer UN-Konferenz in Kuwait machte die Zahl von mehr als sechs Milliarden US-Dollar für das Jahr 2014 die Runde. Millionen für die humanitäre Hilfe, Millionen für den Aufbau der Infrastruktur in den Nachbarstaaten.

"Der Syrien-Krieg, entgrenzte Gewalt, Flucht und Vertreibung sind eine Katastrophe für Millionen von Menschen, das überfordert die Nachbarländer", sagt Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth, die Libanon, Jordanien und den Nordirak gerade erst besucht hat. "Die humanitäre Krise wird zu einer politischen, die die Region destabilisiert und zum Flächenbrand führen kann. Die notwendige humanitäre Hilfe ist daher nicht nur moralische Verpflichtung, sondern auch politische Rationalität."

Doch eigentlich bedarf es keines Marschallplans. Auf drei Jahre gerechnet liegen die Kosten allein für das UNHCR bei fast 20 Millionen Dollar für Syrien und die weiter laufenden Ausgaben für andere humanitäre Katastrophen wie die in Afghanistan, dem Südsudan, Mali oder Myanmar. Berlin zahlte 2013 knapp 117 Millionen Dollar an das UN-Flüchtlingswerk. UNHCR-Mann ten Feld sieht die astronomischen Summen trotz Rekordeinnahmen von 2,9 Milliarden Dollar im Jahr 2013 nüchtern. Denn gefordert waren 5,4 Milliarden: "Damit haben wir 55 Prozent des UNHCR- Finanzbedarfs erreicht."

Einst Vorzeige-Lager, jetzt Stadtgemeinschaft

Ebenso wichtig ist, wie geholfen wird: Zelte, Decken, Reis und Öl allein sind im 21. Jahrhundert keine Lösungen mehr. Milde Gaben und Zeltlager für Hilf- und Mittellose aus Kriegsgebieten reichen nicht. Angesichts der Dauer des syrischen Gemetzels sind "nachhaltige Lösungen" gefragt, sagt Kilian Kleinschmidt, Direktor des Zaatari-Camps, des größten Flüchtlingscamps in Jordanien. Er baut mit dem Vorzeige-Lager die viertgrößte Stadt des Landes auf, wirbt um private Investoren, die Supermärkte, Taxi-Unternehmen und Fernsehsender im Lager betreiben.

Der deutsche UNHCR-Nothelfer, Herr über 80 000 Syrer auf 550 Hektar Katastrophengebiet, meint: "Wir haben bereits 2500 kleine Läden, einen von einem jordanischen Unternehmen betriebenen Supermarkt, jede Menge privater Aktivität." Kleinschmidt will von der humanitären Hilfe zu einer sich selbst erhaltenden Stadtgemeinschaft kommen. Er klingt mehr wie ein Kommunalpolitiker denn wie ein Nothelfer: "Die Flüchtlinge sollen in Würde leben, während das Lager ökonomisch betrieben wird."

Doch Kleinschmidts Modellstadt wird Jordanien verändern: Irgendwann fehlt den Flüchtlingen der Anreiz zur Rück-kehr, selbst wenn Frieden herrscht. Der libanesische Caritas-Vertreter Kamal Suifi kritisiert: "Libanon hat keine funktionierende Regierung, kein vernünftiges Budget, eine ruinierte Volkswirtschaft. Statt unser marodes Land bis zum Anschlag zu belasten, brauchen wir Lager in syrischen Schutzzonen."

UNHCR-Mann ten Feld weist das zurück: "Schutzzonen im syrischen Hinterland bieten keinen Schutz. Grenzen lassen sich nicht schließen, Flüchtlingsströme sich nicht aufhalten. Wir haben keine Alternative."

© SZ vom 31.01.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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