Hessen:"Blackout der Demokratie"

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Ein NPD-Funktionär wird einstimmig zum Ortsvorstand gewählt. Die Empörung ist groß, doch die Beteiligten sind sich einig: "Hier geht es nicht um Parteipolitik."

Von Valentin Dornis und Kerstin Lottritz

Eigentlich war die Tagesordnung des Ortsbeirates Waldsiedlung recht unspektakulär, als das Gremium am 5. September zusammen saß. Es ging auch um die Wahl eines neuen Ortsvorstehers, denn der Posten war schon seit Wochen unbesetzt. Diese Wahl sorgt nun allerdings dafür, dass der hessische Ort mit 2500 Einwohnern in der Gemeinde Altenstadt, Wetteraukreis, bundesweit Schlagzeilen macht. Die sieben anwesenden Mitglieder wählten den stellvertretenden NPD-Landesvorsitzenden Stefan Jagsch einstimmig zum Ortsvorsteher. Bundespolitiker von CDU, SPD und FDP zeigen sich entsetzt, dass Parteifreunde von ihnen einen Politiker der rechtsextremen Partei wählten. Nun versuchen die Lokalpolitiker zu erklären, wie es dazu kam.

"Hier geht es nicht um Parteipolitik", sagen alle Beteiligten, auch der NPD-Mann

"Wir arbeiten für die Bürger, nicht für die Parteien", begründet Norbert Szielasko (CDU) am Sonntag seine Wahl für den NPD-Mann Jagsch. Dieser habe sich immer für die Bürger des Ortsteils engagiert und etwa bei Müllsammlungen mitgemacht. Dass Jagschs Name mehrfach in den vergangenen Jahren im hessischen Verfassungsschutzbericht auftauchte, interessiert den 71-Jährigen nicht. "Er arbeitet gut mit bei uns im Ortsbeirat." Es habe außerdem keinen anderen Kandidaten gegeben, der das Amt habe übernehmen wollen. Er selbst habe sich nicht zur Wahl gestellt, da er etwa keine E-Mails schreiben könne. Der vorherige Ortsvorsteher, Klaus Dietrich (FDP), hatte Ende Juni sein Amt niedergelegt.

Ali Riza Agdas, der für die SPD im Ortsbeirat sitzt, stimmte ebenfalls für den NPD-Mann. Er sei von der Wahl etwas überrascht worden, ursprünglich habe er mit einem anderen Kandidaten gerechnet, habe aber dann aus Mangel an Alternativen für Jagsch gestimmt: "Ich kenne ihn schon lange und habe nie ein Problem mit ihm gehabt." Im Nachhinein habe er sich allerdings geärgert, dass er sich zu der Wahl habe hinreißen lassen. Er sei auch von SPD-Kollegen und Bürgern angerufen worden, die ihn gefragt hätten, warum er so gewählt habe. Das habe ihn so sehr beschäftigt, dass er über einen Rücktritt aus dem Ortsbeirat nachgedacht habe. Am Sonntagabend sollte sich, so hieß, das Gremium noch einmal zusammensetzen und über das weitere Vorgehen beraten.

Jagsch hatte sich in der Vergangenheit immer wieder negativ über etablierte Parteien geäußert. In einem Facebook-Beitrag der NPD Wetterau vom 8. August wird er mit den Worten wiedergegeben, die AfD würde sich bei den "Systemparteien anbiedern". In einem Fragebogen des Hessischen Rundfunks zur Landtagswahl 2013 wird Jagsch mit der Aussage zitiert: "Eine Koalition würde mit keiner der etablierten Parteien in Frage kommen, da sie mit ihrem Verhalten den Volkstod fördern und teilweise auch noch öffentlich propagieren."

Darauf angesprochen sagt Jagsch, zu diesen Aussagen stehe er weiterhin. Auf lokaler Ebene gehe es aber um ganz andere Themen. Dass er sich von Vertretern eben jener Parteien wählen ließ, die er sonst so hart kritisiert, sei deshalb kein Widerspruch: "Hier geht es nicht um Parteipolitik."

Nach Bekanntwerden des Falls ist die Empörung groß. So forderte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil, die Wahl wieder aufzuheben. "Die SPD hat eine ganz klare Haltung: Wir kooperieren nicht mit Nazis! Niemals!", schrieb Klingbeil am Samstagabend auf Twitter. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer forderte im ARD-Sommerinterview, die Wahl müsse "auf jeden Fall" rückgängig gemacht werden. Die Kreisvorsitzende der CDU Wetterau und der Vorsitzende der CDU Altenstadt reagierten in einer gemeinsamen Erklärung "mit Entsetzen und absolutem Unverständnis". Der Kreisverband der Grünen in der Wetterau sprach von einem "Blackout der Demokratie".

© SZ vom 09.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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