Guy Verhofstadt:"Der Realitätssinn hat zugenommen"

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Guy Verhofstadt, 64, ist Fraktionschef der Liberalen im Europäischen Parlament. Als ehemaliger belgischer Premierminister hat er Erfahrung mit äußerst zähen Verhandlungen. (Foto: dpa)

Der Brexit-Koordinator des Europäischen Parlaments spricht über falsche Hoffnungen.

Interview von Daniel Brössler und Alexander Mühlauer

SZ: Herr Verhofstadt, ist die britische Verhandlungsführung einfach nur chaotisch oder vermuten Sie einen geheimen Plan?

Guy Verhofs tadt: In Großbritannien läuft immer noch eine Debatte, wie das Ergebnis des Brexit-Referendums in politisches Handeln übersetzt werden soll. Das schadet dem ganzen Prozedere. Wir sollten uns längst mitten in den Verhandlungen über die Austrittsvereinbarung befinden. Das ist immer noch nicht der Fall.

Die Labour-Partei schlägt eine Übergangszeit vor, in der Großbritannien in der Zollunion bleibt. Ist das machbar?

Wir im Europäischen Parlament haben von Anfang an über die Notwendigkeit einer wohl dreijährigen Übergangszeit gesprochen. Uns war klar, dass es unmöglich sein wird, nach dem Austritt direkt in eine neue Vereinbarung zu wechseln, etwa ein Assoziierungsabkommen. Aus unserer Sicht setzt eine Übergangszeit im Wesentlichen fort, was wir jetzt haben. Der Vorschlag von Labour geht in diese Richtung. Er folgt der Einsicht, dass es unmöglich ist, innerhalb eines Jahres die Austrittsmodalitäten und alle Details der künftigen Partnerschaft zu klären.

Wie könnte so eine Übergangsvereinbarung aussehen?

Das Wichtigste für uns ist, dass wir jetzt mit der Austrittsvereinbarung vorankommen. Erst danach können wir über den nächsten Schritt sprechen. Daher scheue ich mich, schon jetzt darüber zu diskutieren. Das würde den falschen Eindruck erwecken, dass wir bereits bereit sind, über das künftige Verhältnis zu sprechen. Die Reihenfolge ist für uns zentral: Erst die Rechte der Bürger, Finanzfragen und das Grenzproblem. Danach können wir über das künftige Verhältnis sprechen.

Sehen Sie eine Chance, dass die Staats-und Regierungschefs wie geplant beim EU-Gipfel im Oktober grünes Licht für die Verhandlungen über diese künftige Partnerschaft geben?

Die bisherigen Anzeichen sind nicht sehr ermutigend. Wenn in den Verhandlungen in dieser Woche und im September ausreichend Fortschritte gemacht werden, dann wäre es möglich. Wenn es im jetzigen Tempo weitergeht, dann nicht.

Wo kann die EU im Streit über die Finanzen die von den Briten gewünschte Flexibilität zeigen?

Aus unserer Sicht ist das keine Frage der Flexibilität. Absolut nicht. Es geht darum, dass die EU und Großbritannien gemeinsam herausfinden, welche rechtlichen Verpflichtungen finanziell bestehen. Es geht nicht um eine Bestrafung oder darum, ein Auge zuzudrücken. Wir können nicht sagen: Eigentlich müsstet ihr das bezahlen, aber ihr seid nette Kerle, also vergessen wir es. So läuft das nicht.

Für Irland hat Großbritannien eine möglichst unsichtbare Grenze vorgeschlagen. Ist das machbar?

Das klingt ein bisschen zu einfach. Eine Grenze, die unsichtbar ist, ist keine Grenze. Wie schafft man eine Grenze, die keine Grenze ist? Das ist eine etwas surrealistische Frage, die wir beantworten müssen.

Sehen Sie noch die Gefahr, dass es am Ende keine Scheidungsvereinbarung gibt?

Es hat da eine Entwicklung im britischen Denken gegeben. Anfangs hieß es: Besser kein Deal als ein schlechter Deal - das höre ich nicht mehr. Die Briten wissen sehr gut, dass eine Vereinbarung nötig ist. Der Realitätssinn hat zugenommen.

Zeigt sich der denn auch in den zahlreichen Brexit-Papieren, die die britische Seite in den vergangenen Wochen veröffentlicht hat?

Sie zeigen, dass die Briten alle Vorteile der EU wollen und keine Verpflichtungen. Keinen Europäischen Gerichtshof, keine Zahlungen, keine Einwanderung von Menschen aus Osteuropa und freie Hand für internationale Handelsverträge. Das ist unmöglich, denn das bedeutet praktisch die Abwicklung der Europäischen Union. Warum soll dann noch jemand Mitglied der EU sein? Wir werden nie eine Situation zulassen können, in der ein Nicht-Mitglied besser dasteht als ein Mitglied. Aber genau das ist die Schlussfolgerung aus den britischen Papieren.

© SZ vom 30.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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