Grundgesetz:Merz' Irrtümer

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Deutschland sei das einzige Land der Welt, das ein Individualrecht auf Asyl in der Verfassung stehen habe, sagt der CDU-Kandidat. Stimmt das? Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Verfassungsartikel 16a.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Der klare Grundgesetz-Satz „Politisch verfolgte genießen Asylrecht“ kommt in der Praxis mit vielen Einschränkungen daher, auch aufgrund EU-Rechts. Dagegen richtete sich etwa diese Demonstration in Berlin im Februar 2016. (Foto: imago)

Nach der seit drei Jahren anhaltenden Diskussion über Flucht und Asyl sollten wirklich alle Fragen zu dem Thema beantwortet sein - konnte man meinen. Doch nun hat Friedrich Merz einen Aspekt gefunden, der irgendwie neu und überraschend klingt: Wenn man eine europäische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik wolle, dann müsse man bereit sein, "über dieses Asylgrundrecht offen zu reden". Denn Artikel 16a Grundgesetz - so jedenfalls ist Merz zu verstehen - stehe einer europäischen Lösung im Weg, weil es "dann immer noch ein Individualgrundrecht auf Asyl" in Deutschland gebe. Seine Äußerung könnte also letztlich darauf hinauslaufen, das Asylgrundrecht einzuschränken oder ganz zu streichen.

Stimmt das überhaupt? Steht das deutsche Asylrecht einer europäischen Lösung im Weg?

Definitiv nein. Im Gegenteil, das Asylrecht ist längst auf europäischer Ebene angesiedelt, das Grundgesetz ist fast völlig in den Hintergrund getreten. 1993 wurde Artikel 16a Grundgesetz derart einschränkt, dass er heute praktisch keine Rolle mehr spielt. Zentrales Element war damals die Drittstaatenregelung: Auf den Asylartikel kann sich seither nicht mehr berufen, wer über einen EU-Staat oder einen anderen sicheren Drittstaat eingereist ist - was in Deutschland fast immer der Fall ist. Vergangenes Jahr wurden daher nur 0,7 Prozent der Asylanträge anerkannt. Das europäische Asylsystem überlagert also die deutschen Regeln.

Ist das deutsche Asylrecht weltweit einzigartig?

Nein, ist es nicht. Die Präambel der Französischen Verfassung beispielsweise gewährt ein Recht auf Asyl, anerkannt vom Verfassungsrat im Jahr 1980. Auch die italienische Verfassung gewährt ein Asylrecht, ähnlich die portugiesische, und zwar für Ausländer und Staatenlose, die etwa wegen ihres Eintretens für Demokratie und Frieden "in schwerwiegender Weise bedroht und verfolgt werden".

Böte das deutsche Asylrecht - wie Merz anzudeuten scheint - theoretisch denn mehr als die europäischen Regeln?

Auch hier ist das Gegenteil richtig. Im Grundgesetz steht: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Das europäische Asylsystem dagegen geht deutlich über die politische Verfolgung durch Staaten hinaus. In der EU ist Artikel 18 Grundrechtecharta maßgeblich, der auf die Genfer Flüchtlingskonvention verweist, sowie mehrere Richtlinien. Danach sind Flüchtlinge auch vor nicht staatlicher Verfolgung geschützt, wie etwa durch die Taliban in Afghanistan. Außerdem genießen auch Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge Schutz. Europa bietet hier also weit mehr Schutz als das deutsche Asylgrundrecht - allerdings eben nicht zwingend in Deutschland.

Könnte der Gesetzgeber den individuellen Anspruch auf Asyl denn trotzdem mit Zweidrittelmehrheit aus dem Grundgesetz streichen?

Theoretisch wäre das wohl möglich. Artikel 16a dürfte nicht unter dem sogenannten Ewigkeitsschutz des Grundgesetzes stehen. Praktisch bliebe dies aber wirkungslos, weil der Wegfall des deutschen Grundrechts - siehe oben - durch Ansprüche auf europäischer Ebene ausgeglichen würde. Der Europäische Gerichtshof leitet einen individuellen Schutz auch aus den Richtlinien her. Und politisch müsste - wer das deutsche Asylrecht abschaffen will - sich offen dazu bekennen, dass er ein Grundrecht streichen will, welches die historische Antwort auf die politische Verfolgung in Nazi-Deutschland war.

Könnte das Asylgrundrecht nicht auf dem Umweg über den Migrationspakt die "Asylgründe vor den Verwaltungsgerichten erweitern", wie Merz meint?

Der Migrationspakt ist rechtlich nicht bindend, das hat Merz selbst eingeräumt. Worauf er aber möglicherweise anspielt, sind die dortigen Formulierungen zum Klimawandel. Im Pakt versprechen die Staaten, an Lösungen zu arbeiten und "Optionen für eine geplante Neuansiedlung und Visumerteilung" zu erarbeiten. Daniel Thym, Professor in Konstanz und ein führender Fachmann für Migrationsrecht, wertet diese Passage aber gerade nicht als Einfallstor für ein "Klima-Asyl". Erstens sei ja nicht von einer Aufnahmepflicht für Opfer des Klimawandels die Rede, sondern nur von einem - eher diffusen - Bemühen um Lösungen, ohne Ergebnisse vorzugeben. Und zweitens: Indem diese Frage im Migrationspakt behandelt worden sei und nicht im parallel dazu verhandelten UN- Flüchtlingspakt, hätten die Staaten ein restriktives Signal ausgesandt. Denn das Klima-Problem werde eben nicht unter der Überschrift "Flucht" behandelt, sondern unter dem weiter gefassten Oberbegriff "Migration" - womit den Staaten sehr viel mehr Spielräume blieben.

© SZ vom 23.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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