Großbritannien:Boris und der Brexit

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Im Dezember wählen die Briten ein neues Parlament. Dann wird sich zeigen, ob Premier Johnsons Plan aufgeht.

Von Alexander Mühlauer

Kann schon sein, dass Großbritannien die Europäische Union wie geplant am 31. Januar verlässt. Kann aber auch sein, dass sich das Brexit-Drama noch eine Weile hinzieht. Wann die Briten den EU-Ausgang wirklich finden, ist völlig offen - wenn sie ihn denn überhaupt irgendwann finden. Auf dem Weg zum Brexit gibt es noch immer so viele Unwägbarkeiten, dass niemand sagen kann, wie das Drama ausgeht. Fest steht jedenfalls: Der Brexit hat schon jetzt einen dermaßen hohen Scherbenhaufen verursacht, dass es noch lange dauern wird, ihn abzutragen.

Der Reihe nach: Nehmen wir an, es erfüllt sich nach den britischen Parlamentswahlen am 12. Dezember der Wunsch von Boris Johnson. Dann könnte der Premierminister nicht nur sein Amt behalten, sondern auch seinen Brexit-Vertrag dank einer neuen Mehrheit durch das Unterhaus bringen. Damit wäre die Scheidung zwischen London und Brüssel offiziell vollzogen. Johnson hätte sein Wahlversprechen "Get Brexit done" eingelöst. Ein No-Deal-Szenario wäre vorerst vom Tisch, es würde die sogenannte Übergangsphase bis Ende 2020 beginnen, in der sich für Bürger und Unternehmen so gut wie nichts ändert.

Während dieser Zeit wollen London und Brüssel ein Freihandelsabkommen schließen. Ob das gelingt, ist allerdings fraglich. EU-Chefunterhändler Michel Barnier hat zwar gesagt, dass die Grundpfeiler eines solchen Vertrages binnen elf Monaten stehen könnten. Doch selbst dann wären noch Detailfragen zu klären. Es kann also gut sein, dass die Übergangsphase bis Silvester 2020 nicht ausreicht, um einen Handelspakt zu vollenden. Im Austrittsvertrag findet sich deshalb ein Datum, an dem sich entscheiden wird, ob die Übergangsphase um ein oder zwei Jahre verlängert werden muss - oder eben nicht. Im Juli 2020 kommt es zum Schwur: Entweder gibt es ein Handelsabkommen, eine weitere Verlängerung oder keine Einigung. Dann wäre ein ungeordneter Brexit wieder möglich.

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:Großbritannien verlässt die EU

Damit beginnt eine Übergangsphase bis zum Ende des Jahres, in der sich wenig ändert. Die Entwicklungen im Überblick.

Verhandlungen über Freihandelsabkommen können durchaus martialisch sein

Wie lange die Verhandlungen über einen Freihandelsvertrag dauern, wird vor allem davon abhängen, wie stark Großbritannien von den EU-Regeln abweichen will. Johnson behauptet ja, dass die Gespräche "extrem einfach" seien, schließlich beginne man mit dem Status quo, also keinerlei Zöllen. Dabei wird es aber nur bleiben, wenn Großbritannien die bislang geltenden EU-Standards nicht aufweicht. Sollte Johnson auf Deregulierung setzen und aus London eine Art Singapur an der Themse machen wollen, dürfte die Antwort aus Brüssel klar sein: Könnt ihr schon machen, aber dafür werdet ihr bluten. Verhandlungen über Freihandelsabkommen können durchaus martialisch sein.

Man dürfte ja meinen, dass große Teile der britischen Wirtschaft ein Interesse daran haben, dass nach dem Brexit so richtig dereguliert wird. Aber Pustekuchen. Den Vorschlag mancher Brexit-Enthusiasten, nach dem Austritt die Standards zu schleifen, sehen Wirtschaftsverbände skeptisch. Zwar begrüßen Unternehmer grundsätzlich Deregulierung, aber in diesem Fall befürchten sie, dass der Preis für laxere Regeln - nämlich schlechterer Zugang zum EU-Markt - viel zu hoch wäre. Die großen Verbände versuchen schon seit Langem, Downing Street davon zu überzeugen, mit der EU, dem weitaus größten Handelspartner Großbritanniens, im Grunde so weiterzumachen wie bisher.

Im Prinzip hat die Regierung auch nichts dagegen, sie will nur neue großartige Handelsverträge in aller Welt schließen. Mit den USA, mit Indien, mit China. Im Fall von Japan bekamen die Briten allerdings schon mal zu spüren, dass sie im Vergleich zur EU ein ziemlich kleiner Fisch sind. So ließ sie die japanische Regierung die britischen Emissäre wissen, dass Tokio vor Kurzem einen Vertrag mit Brüssel geschlossen habe - ein "copy and paste", wie London sich das vorstellt, werde es nicht geben.

Kanzlerin Merkel warnt bereits vor einem "Wettbewerber" in direkter Nachbarschaft zur EU

In Washington ist das anders. Dort werden die Briten mit offenen Armen empfangen. Donald Trump hat Johnson bereits mehrfach einen "großartigen Deal" in Aussicht gestellt. Doch großartig bedeutet in diesem Fall vor allem großartig für die USA. Trump dürfte mit Johnson genau das versuchen, was er auch schon mit Brüssel vorhatte: Der US-Präsident will mehr amerikanisches Fleisch, mehr US-Arzneimittel und mehr Flüssiggas nach Europa verkaufen. Großbritannien muss sich dann entscheiden, ob es das will. Schon jetzt fürchten hochrangige Beamte in London, dass Umwelt- und Verbraucherschutzstandards aufgeweicht werden könnten.

Als kürzlich ein unter Verschluss gehaltenes Papier des Ministeriums für Umwelt, Ernährung und Landwirtschaft an die Öffentlichkeit gelangte, wurde deutlich, was für Großbritannien auf dem Spiel steht. Die Beamten warnten eindringlich davor, dass die US-Regierung darauf pochen werde, Chlorhühnchen und hormonbehandeltes Fleisch in Großbritannien zu verkaufen. Man werde "unter erheblichen Druck (...) geraten, um den Forderungen der USA nachzukommen", hieß es in dem Papier. Würde London seine Verbraucherschutzstandards tatsächlich den US-Wünschen anpassen, könnte dies einen "irreparablen Schaden" bedeuten. Denn die Zustimmung zu Forderungen der USA könnte die Fähigkeit, ein Abkommen mit der EU auszuhandeln, "erheblich einschränken", heißt es in dem Papier. So würde sich die EU etwa sorgen, dass nicht konforme Waren in ihr Hoheitsgebiet gelangen könnten, wenn das Vereinigte Königreich den Forderungen der USA nachkomme, mit Chlor gewaschenes Huhn einzuführen. Ein solcher Import ist in der EU verboten.

Die in London artikulierten Ängste erinnern an die Verhandlungen über das mittlerweile verworfene TTIP-Abkommen. Als Barack Obama noch Präsident im Weißen Haus war, drängte die US-Regierung die Verhandler der EU-Kommission zu genau diesen Zugeständnissen. Weil Brüssel sich aber weigerte, die Lebensmittelstandards aufzuweichen, erreichten die Gespräche nie die entscheidende Phase. In den Mitgliedstaaten der EU gab es einen breiten Konsens, keine genmanipulierten Nahrungsmittel aus den USA einzuführen. Auch die damalige britische Regierung zeigte sich keineswegs offen dafür.

Die Staats- und Regierungschefs der EU werden jedenfalls genau darauf achten, wo Johnson Großbritanniens Platz in der Welt verortet. Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte jüngst, das Königreich könnte zu einem "Wettbewerber" in direkter Nachbarschaft zur EU werden. Kein Wunder, dass vor allem Berlin darauf pochte, die politische Erklärung, die dem Austrittsvertrag beiliegt, sehr klar zu formulieren. Da ist von einem "fairen Wettbewerb" die Rede und von "robusten Verpflichtungen, die ein level playing field garantieren". Im Klartext bedeutet das: Beide Seiten sollen hohe Standards und eine faire Besteuerung beibehalten. Ob Johnson sich daran halten wird, ist wiederum völlig offen. Denn die politische Erklärung ist, anders als der Austrittsvertrag, rechtlich nicht bindend.

Was auch immer passiert, fest steht: Das Brexit-Drama ist noch lange nicht zu Ende. Es könnte alles auch ganz anders kommen. Wenn Johnson nämlich bei den Wahlen am 12. Dezember nicht das erreicht, was er will. Käme es etwa zu einem hung parliament, hätte Johnson wohl keine Mehrheit für seinen Vertrag. Und im Brexit-Drama wäre wieder alles möglich.

© SZ vom 07.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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