Griechenland:"Können Sie uns hören, Frau Merkel?"

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Griechenlands Regierung will bis Dienstag alle Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager in Moria versorgen und fordert von den anderen EU-Mitgliedsstaaten eine "europäische Lösung". Indes schießt die Polizei mit Tränengas auf demonstrierende Migranten.

Von Tobias Zick, Panagiouda

Nach dem Brand in Moria sind seit Samstag etwa 300 Menschen in ein neues Lager aufgenommen worden. Hilfsorganisationen klagten, das die Versorgung der Geflüchteten durch die Behörden behindert werde. (Foto: Angelos Tzortzinis/AFP)

Nach den Ausschreitungen der vergangenen Tage haben die griechischen Behörden am Sonntag den Zugang zu der Straße, auf der Tausende Menschen nach den Bränden im Flüchtlingslager Moria gestrandet sind, weiträumig abgesperrt. Für Journalisten war es nicht mehr möglich, die Polizeisperren auf dem Weg dorthin zu passieren. Unterdessen trieben die Behörden den Bau eines neuen Zeltlagers auf einem Übungsgelände der griechischen Armee voran. Während schwere Baufahrzeuge und Lastwagen auf das Gelände an der Küste der Ägäisinsel Lesbos zusteuerten, erklärte Migrationsminister Notis Mitarakis bei einer Pressekonferenz am Rande des abgeriegelten Areals, es handle sich um ein "temporäres" Camp; die griechische Regierung setze alles daran, die gestrandeten Menschen schnellstmöglich mit Schlafplätzen, Wasser und Nahrung zu versorgen. Etwa 300 Menschen seien seit Samstag bereits in das neue Lager aufgenommen worden, erklärte Mitarakis weiter; man sei zuversichtlich, bis Dienstag alle der insgesamt fast 12 000 gestrandeten Menschen versorgen zu können. Im Zuge von Corona-Schnelltests bei der Aufnahme seien sieben Infektionsfälle festgestellt worden, darunter fünf bislang unbekannte. Vor dem ersten Großbrand am Mittwoch waren 35 Fälle festgestellt worden; von den meisten Infizierten fehlt bislang jede Spur. Es wird deshalb befürchtet, dass sich das Coronavirus nun rasant unter den Geflüchteten ausbreiten könnte.

Am Samstag hatten Gruppen von Migranten gegen ihre Unterbringung in einem neuen Lager auf der Insel demonstriert. Einige Demonstranten hielten handgeschriebene Plakate hoch, auf denen stand "Wir wollen nicht zurück in eine Hölle wie Moria" und "Können Sie uns hören, Frau Merkel?" Bei der Demonstration kam es zu Ausschreitungen, die Polizei schoss Tränengas in Richtung der Protestierenden. Hilfsorganisationen klagten, die Verteilung von Wasser und Lebensmitteln sowie die medizinische Versorgung der Geflüchteten werde durch die Behörden behindert. Am Sonntag wurden weitere Proteste erwartet. Griechenlands Migrationsminister Mitarakis appellierte an die anderen EU-Länder, sich an einer "europäischen Lösung" der Krise zu beteiligen.

Insgesamt zehn europäische Staaten haben sich bislang zur Aufnahme von insgesamt 400 unbegleiteten Minderjährigen bereit erklärt. Davon wollen Deutschland und Frankreich jeweils 100 bis 150 übernehmen.

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) drang auf eine Aufnahme von mehr Migranten aus Moria als vorgesehen. Deutschland könne ein Zeichen setzen und 2000 Menschen aufnehmen, sagte er dem Deutschlandfunk. Moria sei ein letzter Weckruf für die EU. Nach fünf Jahren Flüchtlingsdebatte sei der Zeitpunkt gekommen, nicht länger auf eine einheitliche europäische Linie zu warten. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken hat ebenfalls gefordert, dass Deutschland mehr Migranten aufnimmt. Die Ankündigung von Innenminister Horst Seehofer (CSU), in einem ersten Schritt 100 bis 150 unbegleitete Minderjährige aufzunehmen, sei für die SPD nicht zufriedenstellend, sagte sie der Bild am Sonntag. "Deutschland muss hier vorangehen und kann sich auch unabhängig von der Entscheidung anderer EU-Länder zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge bereit erklären." Auch Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagte dem Blatt, Europa dürfe sich nicht auf der angekündigten Aufnahme von 400 unbegleiteten Kindern ausruhen. Es müssten jetzt schnell alle Flüchtlinge versorgt und europaweit verteilt werden.

CDU-Politiker in Thüringen haben unterdessen ihre Landesregierung scharf dafür kritisiert, weitere Migranten aus Griechenland aufnehmen zu wollen. "Wir dürfen die Fehler von 2015 nicht wiederholen", sagte der Bundestagsabgeordnete Mark Hauptmann am Samstag in Suhl. Vor fünf Jahren waren knapp 900 000 Migranten weitgehend unkontrolliert nach Deutschland eingereist. Hauptmann sagte, statt mehr Menschen nach Deutschland zu holen, müsse der Schutz der EU-Außengrenzen verbessert und das Abkommen über Rückführungen in die Türkei strikt umgesetzt werden. Das hieße, viele Flüchtlinge in die Türkei zurückzubringen, so Hauptmann. Nur wirklich schutzbedürftige Menschen sollten im Rahmen einer EU-weiten Lösung aufgenommen werden.

Papst Franziskus hat Europa unterdessen zum Handeln aufgerufen. Er erinnerte am Sonntag in Rom an seinen Besuch auf der griechischen Insel Lesbos 2016 und seinen damaligen Appell für eine "menschenwürdige Aufnahme der Frauen und Männer, der Migranten und Flüchtlinge, derjenigen, die Asyl in Europa suchen".

© SZ vom 14.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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