Proteste in Libyen:Gaddafi setzt auf Gewalt

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Diktator Gaddafi lässt den Aufstand im libyschen Bengasi niederschlagen - und die Stadt stürzt ins Chaos: Bewaffnete feuern wahllos auf Menschen, Einwohner sprechen von einem "Massaker" mit offenbar mehr als 200 Toten - und von schießwütigen ausländischen Söldnern.

Anarchie und Gewalt herrschen in der libyschen Hafenstadt Bengasi: Bei Protesten von Gegnern des Diktators Muammar el Gaddafi sind erneut zahlreiche Menschen getötet worden.

Am Samstag demonstrierten Exil-Libyer in Washington gegen Muammar el Gaddafi und drückten ihre Solidarität mit den Revoltierenden aus. (Foto: AP)

Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sind in den vergangenen Tagen insgesamt mindestens 104 Menschen getötet worden. Der arabische Sender al-Dschasira geht sogar von mehr als 200 Toten aus, die Website Libya al-Youm berichtet von mindestens 208 Todesopfern. Eine unabhängige Bestätigung für die Angaben gibt es wegen der schwierigen Informationslage allerdings nicht.

Auch am Sonntag schossen Sicherheitskräfte nach Zeugenberichten wieder auf Regierungsgegner - und wie am Samstag war ein Trauerzug ihr Angriffsziel. Ein Arzt in einem Krankenhaus in Bengasi sagte, mindestens eine Person sei während eines Trauermarsches erschossen worden. Weitere 14 seien durch Schüsse verletzt worden, fünf davon schwer. Ein Mann, dem ins Bein geschossen wurde, berichtete, auf dem Weg zum Friedhof sei der Trauerzug an einem Militärgelände vorbeigekommen, als die Sicherheitskräfte das Feuer eröffneten. Zuerst hätten sie in die Luft geschossen, dann auf die Menschen.

Weil die Lage in der Stadt völlig unübersichtlich ist, schwanken die Angaben über die genaue Zahl der Toten. Augenzeugen sprechen jedenfalls von einem "Massaker".

"Dutzende wurden getötet, nicht 15, Dutzende. Wir befinden uns mitten in einem Massaker", zitiert die Agentur Reuters einen Einwohner Bengasis. Augenzeugen zufolge schossen Scharfschützen der Sicherheitskräfte auf Demonstranten.

Al-Dschasira berichtete am Sonntag von bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Bengasi. Augenzeugen sprachen davon, dass sich die Stadt in eine "Kriegszone" verwandelt habe.

Eine Frau berichtete der Agentur dpa, Soldaten hätten am Samstag mit scharfer Munition und mit Panzerfäusten auf Demonstranten und Wohnhäuser gefeuert. Vor ihrem Haus habe sie 25 Leichen liegen sehen. Die Soldaten seien allerdings keine Libyer gewesen, sondern "Söldner" aus dem westafrikanischen Staat Mali.

Die Zeitung Kuryna, die dem Sohn Gaddafis, Seif el Islam, nahesteht, berichtete dagegen unter Berufung auf Krankenhausmitarbeiter von zwölf Toten.

Nach Informationen von al-Dschasira fahren Regierungskräfte in Autos durch die Stadt, von denen die Nummernschilder abmontiert wurden, und feuern auf Menschen.

Der Sender hatte zuvor von mindestens 15 Toten berichtet, nachdem Sicherheitskräfte das Feuer auf eine Trauerfeier eröffnet hätten. Am Samstag waren Tausende Menschen im rund 1000 Kilometer östlich der Hauptstadt Tripolis gelegenen Bengasi auf die Straße gegangen, um gegen Gaddafi zu demonstrieren.

Wegen der Medienzensur ist das Ausmaß der Proteste nur schwer abzuschätzen. Ausländische Reporter dürfen nicht berichten, einheimischen Journalisten wird der Zugang nach Bengasi verwehrt. Die Regierung hat die Internetverbindungen im Land offenbar gekappt. Zudem waren die Mobilfunkverbindungen in die Stadt häufig unterbrochen.

Die Anzeichen mehren sich, dass die öffentliche Ordnung in Bengasi zusammengebrochen ist: Die italienische Nachrichtenagentur Ansa zitierte einen Augenzeugen, wonach die Stadt nach den tagelangen Unruhen "völlig außer Kontrolle" sei. Regierungs- und Verwaltungsgebäude sowie eine Bank seien niedergebrannt worden. "Die Rebellen haben geplündert und alles zerstört", sagte der Augenzeuge. Nirgendwo sei Polizei zu sehen. Einwohnern zufolge werden allmählich die Lebensmittel knapp.

Diktator hinter kugelsicherem Glas: Muammar el Gaddafi bei einer Militärparade in Tripolis im September 2009. (Foto: AP)

Die Regierung äußerte sich nicht zu den Gewaltausbrüchen - verbreitet stattdessen aber eine Verschwörungstheorie: Am Samstag seien in mehreren Städten Dutzende Mitglieder eines arabischen "Netzwerks" zur Destabilisierung des Landes festgenommen worden.

Die Agenten seien ausgebildet gewesen, "die Stabilität Libyens, die Sicherheit der Bürger und die nationale Einheit" zu beschädigen, berichtete die amtliche Nachrichtenagentur Jana. Zu der Gruppe hätten Tunesier, Ägypter, Sudanesen, Palästinenser und Syrer sowie Türken gehört. Israel wird als verantwortlich für das "Netzwerk" - zumindest laut der amtlichen Nachrichtenagentur - nicht ausgeschlossen.

Eine Gruppe muslimischer Geistlicher forderte die Sicherheitskräfte auf, dem Töten ein Ende zu machen. "Stoppt das Massaker jetzt!", hieß es in ihrem Appell.

Es sind die schwersten Unruhen in Gaddafis 40-jähriger Herrschaft. Proteste für Demokratie und soziale Reformen hatte es am Samstag auch in Algerien, Jemen, in Bahrain, Oman und Kuwait sowie in Dschibuti am Horn von Afrika gegeben.

© sueddeutsche.de/Reuters/AFP/dpa/dapd/jab - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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