Geheimdienste:Die Bilanz der Regierung im NSA-Skandal ist beschämend

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Das Kanzleramt gerierte sich als Opfer, gleichzeitig hörte der BND Politiker in aller Welt ab. (Foto: N/A)
  • Der NSA-Untersuchungsausschuss im Bundestag nähert sich seinem Finale: Am kommenden Donnerstag wird Angela Merkel aussagen.
  • Der Ausschuss hat Chancen, als einer der erfolgreichsten in die Geschichte des deutschen Parlaments einzugehen.
  • Das liegt nicht an der Bundesregierung. Sie hat die Rolle des Bundesnachrichtendienstes gezielt falsch dargestellt und verzerrt.

Von Georg Mascolo, Berlin

Der 29. Oktober 2013, 6.50 Uhr am Morgen, war eine Zäsur in der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes. Es galt, eine eilige Weisung des damaligen Kanzleramtsministers Ronald Pofalla umzusetzen, die er tags zuvor in seinem Dienstzimmer dem inzwischen entlassenen BND-Präsidenten Gerhard Schindler erteilt hatte. Letztlich lässt sie sich in einem Wort zusammenfassen: Löschen. Weder von dem Treffen noch von dem Auftraggeber erfuhren die für weltweite Abhöraktionen zuständigen Experten der sogenannten Technischen Aufklärung, kurz TA, allerdings. "Sehr geehrte Mitarbeiter", hieß es in einer knappen Mail, "im Rahmen der zurückliegenden und aktuellen Diskussionen zur Abhöraffäre sind auch die bei BND eingesteuerten Botschaften von EU- und Nato-Staaten betrachtet worden." Nun sei "angewiesen" worden, diese zu deaktivieren. Das Ganze werde "automatisiert umgesetzt".

Mancher in der Abhörtruppe hatte schon auf so einen Löschbefehl gewartet, spätestens seit die oberste Dienstherrin, die Bundeskanzlerin, fünf Tage zuvor in der "Tagesschau" zu sehen war. Da stand Angela Merkel am Eingang des Ratsgebäudes der Europäischen Union in Brüssel und empörte sich darüber, was kurz zuvor durch einen Bericht des Spiegel bekannt geworden war: Der amerikanische Geheimdienst NSA hatte mindestens eines ihrer Handys abgehört und Merkel schien darüber ehrlich betroffen zu sein: "Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht", erklärte sie.

Wusste die Kanzlerin nicht, dass sie da etwas kritisierte, was ihr eigener Geheimdienst doch ganz genauso betrieb? Dass Politiker, die sie herzte, Parlamente, in denen sie sich feiern ließ, Regierungen, mit denen sie eng und vertrauensvoll zusammenarbeitete, während ihrer gesamten Amtszeit - und meist schon lange davor - vom BND überwacht wurden? Für dessen direkte Kontrolle wiederum ihr eigenes Amt zuständig ist, Beamte, die nur ein paar Flure von ihr entfernt sitzen?

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Das Kanzleramt gerierte sich als Opfer, gleichzeitig hörte der BND Politiker in aller Welt ab

Für den kommenden Donnerstag ist Dr. Merkel, Angela, als Zeugin vor den NSA-Untersuchungsausschuss geladen. Es ist die voraussichtlich letzte Sitzung, das Finale eines Gremiums, das nach den Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden eingesetzt wurde und eigentlich herausfinden sollte, was und wen ausländische Geheimdienste in Deutschland abhören. Nach 130 Sitzungen ist man, was das angeht, nicht entscheidend schlauer, als man bereits zu Beginn der Affäre im Sommer 2013 war. Snowden etwa sagte nie aus. Und dennoch hat dieser Ausschuss Chancen, als einer der erfolgreichsten in die Parlamentsgeschichte einzugehen. Denn er legte offen, wie die Regierung nach Beginn der NSA-Affäre Öffentlichkeit und Parlament täuschte, die eigene Rolle des BND im weltweiten Abhörgeschäft mal verschwieg, gezielt falsch darstellte oder auch gar nicht so genau darum wissen wollte. Die Liste der Irreführungen ist so lang wie die bis heute im Parlamentsarchiv einzusehenden falsch oder unvollständig beantworteten Kleinen und Großen Anfragen, die Bundestagsabgeordnete seit Beginn der Affäre an die Regierung richteten.

Es ist, man kann es nicht anders sagen, eine beschämende Bilanz für Merkels Regierung.

Wie wenig das moralische Diktum, dass sich Abhören unter Freunden nicht gehört, in ihrer eigenen Regierung galt, wird sich die Kanzlerin zumindest nicht in öffentlicher Sitzung vorhalten lassen müssen. Denn wen und was der BND alles bespitzelte, ist noch immer als streng-geheim eingestuft, das Kanzleramt fürchtet Proteste und diplomatische Verwicklungen, wenn die mehr als 1000 Seiten umfassende Zielliste bekannt würde. Staatswohl. Das schützt zudem vor einer ziemlichen Blamage. Die Abgeordneten des Untersuchungs-Ausschusses dürfen die Liste deshalb nur im BND-Neubau am Rande des Regierungsviertels einsehen, selbst ihre Notizen bleiben unter Verschluss. Ein einziger, vom Internet getrennter Computer mit deaktivierter Kamera steht bei der Einsicht in die Liste für Recherchen zur Verfügung.

Nur in geheimer Sitzung und mit geräumter Besuchertribüne würden die Abgeordneten der Kanzlerin überhaupt vorhalten dürfen, was sich auf der BND-Liste befindet: Der langjährige französische Außenminister Laurent Fabius und das Büro des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu, so ziemlich jede europäische Regierung, manchmal, wie in Österreich, bis hinunter zum Agrarministerium. Der Code "LAP" - das steht für Landwirtschaftspolitik - legt offen, was der BND hier ausspionieren wollte. Ziele aus Malta und dem Vatikan stehen auf der Liste, der EU-Rat und seine Beamten, das israelische Parlament und die amerikanische Andrews Air-Force-Base, von der aus US-Präsidenten mit der Air Force One in alle Welt fliegen. Dazu Rüstungsunternehmen, Rating-Agenturen, Banken, die OSZE in Wien, der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, das Rote Kreuz und Oxfam. Es sind lange Listen mit E-Mail-Adressen, Festnetz- und Handy-Nummern. Eine deutsche Miniatur der NSA-Sammelwut. Manche hatten Glück: Bei dem gerade aus dem Amt geschiedenen US-Außenminister John Kerry gab der BND die Vorwahl seines Handys falsch in den Computer ein.

Es ist also eine misstrauische Runde von Parlamentariern, auf welche die Kanzlerin trifft. Und dies gilt nicht nur für die Opposition aus Linken und Grünen und dem skeptischen Koalitionspartner SPD. Selbst der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, der CDU-Mann Patrick Sensburg, beginnt Fragen schon mal mit dem Satz "was mich halt so ein bisschen stutzig macht". Zu lang ist die Liste der Versäumnisse, der falschen oder unterlassenen Informationen gegenüber dem Parlament.

Es begann schon direkt nach den ersten Snowden-Enthüllungen im Sommer 2013, als die Regierung verschwieg, dass der weltgrößte Internet-Knotenpunkt in Frankfurt zeitweise von BND und NSA gemeinsam abgehört wurde. Dabei kannte das Kanzleramt die zu Zeiten von Rot-Grün genehmigte Operation "Eikonal", Thomas de Maizière war einer der Eingeweihten. Aber niemand sollte davon erfahren. So schickte die Regierung Delegationen nach Washington und forderte lautstark Aufklärung darüber, was die NSA auf deutschem Boden und vor allem in Frankfurt treibe. Die gezielte Irreführung nahm ihren Anfang. "Ist das ernst gemeint oder ist es wegen der Wahlen", fragte ein verblüffter amerikanischer Geheimdienst-Offizier seinen deutschen Kollegen. Dann wurde vom Kanzleramt behauptet, dass die NSA ein No-Spy-Abkommen angeboten hätte, eine Art geheimdienstlichen Nichtangriffspakt. Das Weiße Haus bestreitet bis heute, dass es eine solche Zusicherung je gegeben hat. Die SPD spricht von einem groß angelegten Wahlkampfbetrug.

Auch spätere Gelegenheiten, das anfangs gezeichnete Bild der Affäre zu korrigieren, ließ die Regierung verstreichen. So etwa, als 2014 herauskam, dass der BND ein Gespräch zwischen Hillary Clinton, damals US-Außenministerin und Kofi Annan, dem damaligen UN-Generalsekretär, abgehört hatte. Die Sache ließ sich nicht verschweigen. Die CIA hatte einen Agenten beim BND angeworben, er lieferte den Amerikanern eine Kopie des abgehörten Gesprächs. Justizminister Heiko Maas wurde von der Bundesanwaltschaft über die skurrile Causa unterrichtet, auch das Kanzleramt erfuhr davon. "Früher musste ich für so etwas Eintritt zahlen", amüsierte sich Maas vor Vertrauten. Merkels Wort, dass sich Abhören unter Freunden nicht gehört, geriet ins Wanken. Aber die Regierung erklärte, dass es sich nur um einen bedauerlichen Einzelfall gehandelt habe, einen "Beifang". Solche Kommunikation würde "nicht gezielt erhoben", erklärte das Kanzleramt gegenüber dem Parlament und sei deshalb überhaupt nicht mit den NSA-Praktiken zu vergleichen.

Wie die Praxis des BND, die am 29. Oktober 2013 beendet wurde, tatsächlich aussah, sollten Parlament und Öffentlichkeit wohl nie in allen Einzelheiten erfahren. Obwohl sogenannte besondere Ereignisse eigentlich meldepflichtig sind. Die Regierung zählt dazu jede Trunkenheitsfahrt eines Nachrichtendienstlers. Aber nicht die Ausspähung von Verbündeten. Erst nachdem SZ, NDR und WDR im September 2015 die Regierung mit einer detaillierten Recherche über die BND-Abhörpraxis konfrontierten, wurde der für die Kontrolle der Geheimdienste zuständige Ausschuss des Bundestages erstmals umfassend informiert. Bis dahin waren die Spionageaktionen selbst innerhalb des Kanzleramts als geheime Kommandosache behandelt worden; nicht einmal das für die Aufsicht über die Technische Aufklärung zuständige Referat erfuhr davon. Der empörte Parlamentarische Untersuchungsausschuss erweiterte seinen Auftrag und beschäftigt sich spätestens seither eher mit dem BND als mit der NSA.

In der Regierung findet man niemanden mehr, der all diese Abläufe wirklich verteidigen will. Ja, vieles sei schiefgelaufen, heißt es, ja, man hätte früher informieren müssen. Aber nein, man könne auch niemandem wirklich einen Vorwurf machen, es sei einfach unglücklich gelaufen. BND-Chef Schindler habe erst sehr spät davon erfahren, dass sein eigener Dienst im großen Umfang befreundete Länder abhöre. Dieser will dann gleich und ziemlich detailliert Pofalla unterrichtet haben. Pofalla erinnert sich nur an eine rudimentäre Unterrichtung, habe aber sofort angewiesen, die problematische Praxis zu beenden.

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Und wann erfuhr die Bundeskanzlerin von all dem? "Mit der Bundeskanzlerin habe ich nach meiner Erinnerung nicht darüber gesprochen", sagte Pofalla bei seiner letzten Vernehmung Ende Januar vor dem Untersuchungsausschuss. Er habe erst einmal einen Bericht vom BND angefordert. Was genau ihm Schindler damals berichtet habe, wisse er auch nicht mehr: "Ich bin ja heilfroh, dass ich mich überhaupt an diese Gespräche erinnern kann." Auch Schindler sagt, dass Merkel vor ihrem Satz "Abhören unter Freunden geht gar nicht" nichts habe wissen können: "Wir haben die Kanzlerin nicht ins Messer laufen lassen."

Allerdings, so steht inzwischen fest, hat die Kanzlerin auch nie gefragt. Auch nach der Sichtung aller Akten und der Vernehmung der vielen BND-Zeugen bleiben Lücken. Warum will man in der Technischen Aufklärung erst nach dem Kanzlerinnen-Wort entschieden haben, den eigenen Präsidenten über die Ausspähung europäischer und amerikanischer Freunde zu informieren? Fast wortgleich hatte die Kanzlerin sich schon im Juli 2013 in einem Sommer-Interview der ARD geäußert. Kurz darauf beauftragte Merkel den Dienst damit, eine Art europäisches No-Spy-Abkommen zu verhandeln, "gemeinsame nachrichtendienstliche Standards für Auslandsnachrichtendienste der EU" genannt. Fragte niemand nach, was dies für den BND bedeuten würde? 2008, also fünf Jahre vor Snowden, flog auf, dass der BND das Büro der Welthungerhilfe in Kabul abhörte, die damalige Vorsitzende der Organisation beschwerte sich persönlich im Kanzleramt. Es war Ingeborg Schäuble, die Ehefrau des heutigen Finanzministers. Überprüfte niemand daraufhin die Zielliste des BND?

Ein schmaler Dokumenten-Band schließlich, "Auftragskonforme Aufklärungsansätze/Aufklärung von Institutionen wie Vereinte Nationen und Europäische Union" legt nahe, dass man im Kanzleramt so ahnungslos nicht gewesen sein kann. 2009 wies das Kanzleramt den BND an, bei Cyber-Operationen und dem Einsatz von Internet-Trojanern grundsätzlich "Informationen von Mail-Adressen" zu "unterdrücken", die "einen Bezug zu VN und EU aufweisen". Warum, wenn man doch gar nicht wusste, dass man auch Verbündete ausspioniert? Bei allen sonstigen Abhöroperationen blieb auch nach dieser Ansage aus Berlin alles, wie es war. Der BND notierte, wenn die Regierung dies hätte stoppen wollen, "hätte es eine konkrete Vorgabe formulieren müssen, um die bisherige Praxis, die dem BKA bekannt ist, zu beenden."

Die Kanzlerin, so steht zu erwarten, wird am Donnerstag nicht in solche Details gehen wollen. Alles nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet, organisatorische Mängel abgestellt, das BND-Gesetz geändert, die parlamentarische Kontrolle gestärkt. Irgendwann müsse es mit einer Affäre ja auch mal gut sein, wird die Botschaft heißen. Die Welt habe nun wahrlich andere Probleme, dafür brauche es funktionierende Nachrichtendienste.

Das stimmt. Ebenso wie Regierungen, die den Grundsatz befolgen, dass man Öffentlichkeit und Parlament nicht immer alles sagen muss. Aber was man sagt, sollte der Wahrheit entsprechen.

© SZ vom 13.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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