Der G8-Gipfel der sieben größten Wirtschaftsnationen und Russlands im Juli 2001 in Genua war von Straßenschlachten zwischen Globalisierungsgegnern und Polizisten überschattet worden, bei denen hunderte Menschen verletzt wurden. Für weltweites Entsetzen sorgte damals der Tod des Demonstranten Carlo Giulani, der Polizisten angegriffen hatte und von einem Beamten durch einen Kopfschuss getötet wurde.
Italiener erhält 45 000 Euro Schmerzensgeld
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg befasste sich nun mit der Erstürmung einer Schule durch die Polizei in der Nacht nach Gipfelende. Die Diaz-Pertini-Schule war Globalisierungsgegnern als Schlafplatz angeboten worden. Die Polizei hatte dem Gericht zufolge Hinweise, dass schwarz gekleidete junge Männer - mutmaßlich gewaltbereite Autonome - in die Schule eingedrungen waren. Beamte einer Sondereinheit sollten das Gebäude durchsuchen.
Bei dem nächtlichen Einsatz ging die Polizei äußerst brutal vor. Viele Demonstranten mussten sich wegen Augen- und Mundreizungen nach einem immensen Tränengaseinsatz verarzten lassen, Dutzende wurden teils schwer verletzt und mussten aus dem Gebäude getragen werden. Unter anderem schlugen Polizisten auch auf den damals 62-Jährigen mit Schlagstöcken ein, traten ihn und brachen ihm mehrere Knochen.
Der Mann leidet noch heute unter den Folgen der Polizeigewalt und verklagte Italien vor dem Straßburger Menschenrechtsgericht. Die Richter urteilten nun, dass der brutale Einsatz der Polizei durch nichts zu rechtfertigen gewesen sei - die Polizisten hätten vielmehr "willkürlich" zugeschlagen. Der Kläger sei somit Opfer von "Folter" geworden, das Gericht sprach ihm 45 000 Euro Schmerzensgeld zu. Der Menschenrechtsgerichtshof verwies unter anderem auf ein Urteil des Obersten italienischen Gerichtshofes, der den Polizeieinsatz als "Strafaktion" bezeichnet hatte, deren Ziel es gewesen sei, Menschen zu demütigen und ihnen körperliches und psychisches Leid zuzufügen.
Italiens Strafrecht habe ein "strukturelles Problem"
Der Menschenrechtsgerichtshof bemängelte zudem, dass die Polizisten, die den Mann damals misshandelten, nie identifiziert und zur Rechenschaft gezogen wurden. Dies sei aber nicht auf einen fehlenden Einsatz der Staatsanwaltschaft zurückzuführen. Vielmehr habe sich das italienische Strafrecht als "ungeeignet" erwiesen, solche Fälle von Folter zu verfolgen. So habe die Polizei die Zusammenarbeit mit der Justiz "straflos" verweigern und die Identität der gewalttätigen Beamten zurückhalten können, kritisierten die Straßburger Richter. Sie sprachen von einem "strukturellen Problem", das behoben werden müsse.
Wegen der Erstürmung der Schule waren zwar mehrere ranghohe Polizisten, die für die Organisation des Einsatzes verantwortlich waren, zu Haftstrafen verurteilt worden. Die Beamten, die die Gewalt verübten, blieben aber unbehelligt. Italien kann gegen das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes Rechtsmittel einlegen.
Bereits wegen des Todes des jungen Demonstranten in Genua war vor dem Straßburger Gerichtshof eine Klage gegen Italien verhandelt worden; im März 2011 erfolgte aber ein Freispruch.