Friedensnobelpreis für Gore:Vom Klima verwandelt

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Erst der Oscar, dann die Auszeichnung aus Oslo - wie aus einem ewigen Besserwisser und Verlierer ein Sieger in ziemlich vielen Klassen wurde.

Jörg Häntzschel und Stefan Kornelius

New York, 12. Oktober - Man nannte ihn "Gore the Bore", Gore den Langweiler. Er galt als pedantisch, hölzern und verkrampft. Er war ein Mann, dessen Körper ihn wie Blei zu Boden zog. Ein Mann, der nie aus den Fußstapfen des Vaters herauskam. Der eigentlich etwas viel Schöneres vorhatte, als Politiker zu werden, aber nicht den Mut dazu. Dann verlor er die Präsidentschaftswahl gegen Georg W. Bush, verlor nicht einmal, aber gab sich verloren. Davon, so dachte man, wird er sich nie wieder erholen.

Der Höhepunkt einer ungewöhnlichen Karriere: Friedensnobelpreis für Al Gore (Foto: Foto: Getty Images)

Und dann dieser Wandel: Während sein einstiger Rivale Bush heute in Lumpen dasteht, moralisch bankrott, bespritzt mit Dreck und Schande, strahlt Gore immer heller. Er gewinnt die Herzen, und er gewinnt Preise. Nun wurde ihm, gemeinsam mit dem Weltklimarat (IPCC) der Friedensnobelpreis zugesprochen, die höchste moralische Auszeichnung, die es auf Erden gibt. Der Preis wird der weltweiten Kampagne für den Klimaschutz neuen Auftrieb geben. Er wird wohl die letzten Kritiker zum Verstummen bringen, die das düstere Bild von der bevorstehenden, von der längst stattfindenden Erwärmung der Welt als hysterisches Hirngespinst abtun.

Für Gore selbst jedoch stellt die Entscheidung des Nobelkomitees den Höhepunkt einer ungewöhnlichen Karriere dar, die vor wenigen Jahren abrupt in Trauer und Enttäuschung zu enden erschien. Schon viele sind in Amerika vom Star zum Politiker geworden. Gore wurde vom Politiker zum Superstar.

Laufen lernen im Hotel

Al Gores politische Karriere begann am Tag seiner Geburt. Schon der Namenszusatz Junior sollte in seinem Fall mehr bedeuten als eine dynastische Folgebeschreibung. Al Gore Senior, das war eine Marke, ein politischer Zustand aus dem Süden des Landes. Der mächtige Senator, das alte Washington, die Salons in Georgetown, das Leben im Hotel. Al wurde in diese politische Welt hineingeboren, was der Nashville Tennessean vor 59 Jahren auf der ersten Seite meldete.

Sehr schnell lasteten alle Erwartungen an die Fortsetzung der politischen Familiengeschichte auf ihm. Der Vater, aufgestiegen aus eher undurchschaubaren und einfachen Verhältnissen, ließ keinen Zweifel an seinen Ambitionen. Al Junior, so beschreiben es die Biographen, lebte unter dem ständigen Druck, die Erwartungen des Vaters erfüllen und den perfekten Sohn geben zu müssen.

Al wuchs im Hotel auf, dem Fairfax in Washington, wo die Eltern ihre Residenz unterhielten. Politiker gaben sich im Besuchssalon die Ehre, der Vater ließ den Sohn früh teilhaben am Geschäft. Al tauchte im Schwimmbad des Senats sein U-Boot, schaukelte auf den Knien von Richard Nixon in der Senats-Kammer, hörte bei Telefongesprächen zwischen John F. Kennedy und seinem Vater zu. Er besuchte mit den anderen Kindern der Washingtoner Polit-Aristokratie die private St.-Albans-Highschool der Stadt und bewarb sich zum Studium lediglich in Harvard. Die Zulassung stand sowieso nicht in Frage. Barbara Bushs Vorstellung von einem perfekten Sohn, so pflegte der spätere Präsident George W. Bush zu scherzen, sei bestimmt Al Gore gewesen.

Gore meldete sich freiwillig zum Dienst in Vietnam - als Reporter. Er wollte seinem Vater, dem Senator, die politische Peinlichkeit eines familieneigenen Drückebergers ersparen und sich selbst den Lebenslauf nicht verderben. Die Familienplanung sollte sich erfüllen, Al Junior gewann mit nur 28 Jahren jenen Abgeordnetensitz aus Tennessee im Repräsentantenhaus, den sein Vater einst besetzt hielt.

Es war dies übrigens der selbe Platz, den ein anderer berühmter Congressman aus Nashville vor den Gores inne hatte: Cordell Hull, elf Jahre lang bis 1944 Außenminister der USA. Gore Junior bezeichnete Hull gerne als sein politisches Vorbild, dessen Erbe er verpflichtet sei. Hull war ein Vorkämpfer des Freihandels, einer der Gründer der Freihandels-Organisation Gatt und vor allem einer der Väter der Vereinten Nationen. Dafür erhielt er 1945 den Friedensnobelpreis.

"Forschen nach der Ursache für Niederlagen"

Das Erbe seines Vaters sollte Al Gore auch im Senat antreten. Nach vier Legislaturperioden im Repräsentantenhaus zog er 1985 in den Senat ein, wieder auf den alten Platz seines Vaters und diesmal sogar mit dessen Stuhl. Der Senior hatte das Büromöbel gleich mitvererbt. Doch der Junior wollte noch höher hinaus. Es gehört in den USA eine gewisse Chuzpe dazu, mit 39 Jahren für das Präsidentenamt zu kandidieren. Was Al Gore dazu verleitete ist unklar, die Bewerbung floppte auch prompt und bescherte dem politischen Ausdauerläufer neben einem kurzen Moment nationaler Aufmerksamkeit eine Zwangspause.

Gore reagierte, wie er immer in persönlichen Niederlagen reagieren sollte: Er bat seine engsten Vertrauten zu einer ganzen Serie von Abendessen und fragte jeden einzelnen nach der Ursache für die Niederlage. Was er zu hören bekam war heftige Kritik an seiner Art, die Wähler mit technologischem und ökologischem Sachverstand, der an Besserwisserei grenzte, zu überfordern. Gefehlt habe eine Vision für die Wirtschaft des Landes, und gefehlt habe hier und da ein klares Wort. Anders ausgedrückt: Gore ging den Menschen mit seinem Redestil auf die Nerven.

Der gedemütigte Kandidat tat, was er am besten konnte: Er besorgte sich die richtigen Bücher und die richtigen Vertrauten, er feilte an seinem Redestil, er paukte die Grundlagen der Volkswirtschaft. Die Reaktion war nicht neu: Schon als Gore seine ersten politischen Schritte tat und als Washingtoner Gewächs dringend Glaubwürdigkeit im Süden benötigte, verbrachte er seine Semesterferien in Nashville, studierte Südstaaten-Geschichte und versuchte, sich blitzschnell den Lokalgeruch anzueignen.

So richtig abgenommen hat man ihm das nie. Gore trug schwer am Makel des Unauthentischen, des Synthetischen. Der Mann - ein Kunstprodukt, die Fassade eines Politikers, nicht zu greifen, obwohl vorhanden in Fleisch und Blut.

Nirgendwo sollte dieser Gegensatz krasser wirken als in der Zeit mit Bill Clinton, in der Phase als Vizepräsident 1992 bis 2000 neben einem der emotionalsten Präsidenten dieser Zeit. Al Gore - "das ist der Mann, bei dem harte Arbeit aussieht wie, nun ja: harte Arbeit", kommentierte die New York Times vor Jahren. Al Gore war der Typ, der alles immer besser machen wollte, der Streber, der Perfektionist. Er war ein begnadeter Debattierer, ein faktengeschwängerter Besserwisser. Aber wehe, eine Frau aus dem Saal fiel ihm um den Hals, wehe, einer durchbrach die Mauer der Perfektion.

Der eigentlich mächtige Mann im Weißen Haus

Schon vor Dick Cheney gab es das geflügelte Wort, der Vizepräsident sei der eigentlich mächtige Mann im Weißen Haus. Gemeint war Gore, zuständig für mehr als 70 Prozent des operativen Geschäfts unter Clinton. Aber so schlecht waren die Marktwerte des Vize, dass seine Berater schon Pläne entwarfen, ihn mehr an der Seite Clintons zu zeigen, auf dass der Glanz ein wenig abstrahlen könne.

Dann kam der Januar 1997 und im Oval Office stand die Praktikantin. Plötzlich hatte der unterkühlte Gore genau die richtige Temperatur. In diesem Klima entschied sich Gore, zum zweiten Mal in seinem Leben, den Angriff auf die Präsidentschaft zu starten, diesem wohl größten Durchhaltetest des westlichen Politbetriebes. Gore war ihm wieder nicht gewachsen. Selten zuvor wurde einem Kandidaten so uneingeschränkt das Amt zugebilligt, selten zuvor war ein Vizepräsident mit derart hohen Werten in das Rennen gestartet. Aber Gore verlor den Kampf gegen Bush. Nein, nicht in Florida, wo die Gerichte am Ende den Ausschlag gaben, sondern in den anderen Ecken des Südens und der Mitte Amerikas, die einst Clinton gehörten und nun an die Republikaner verloren gingen.

Keine Szene war symbolischer für Gores Niederlage und seine Schwäche als die Aufnahme aus der Wahlnacht in Tennessee, in der die Fahrzeugkolonne zu sehen ist, wie sie das Hauptquartier des Bewerbers verlässt auf dem Weg zum Schafott. Gore wollte vor seinen Anhängern die Niederlage eingestehen, als ihn auf halbem Weg ein Telefonanruf erreichte. Ein Mitarbeiter rief Gore zu, er solle warten, in Florida werde es knapp. Gore ließ die Autos wenden - aber da war es zu spät. Für die Öffentlichkeit und für George Bush hatte der Mann bereits gezuckt - und niemand erwartete, dass er sich von dieser Demonstration der Wankelmüdigkeit je wieder erholen würde.

Und plötzlich ein Prophet

Gores Entscheidung, "um der Einheit unseres Volkes und der Stärke unserer Demokratie willen" die Niederlage zu akzeptieren, brachte ihm auch bei seinen Freunden keine Sympathie ein. Dann tauchte er ab. Er unterrichtete Journalismus an der New Yorker Columbia University und der University of California; er nahm einen Posten bei einem Finanzdienstleister an; er wurde Mitglied im Verwaltungsrat von Apple. Und er ließ sich einen Vollbart wachsen, hinter dem er wohl zu verschwinden hoffte. Selbst mit seinem Votum für Howard Dean bei der Nominierung des demokratischen Präsidentschaftskandidaten für die Wahl von 2004 hatte er auf den Falschen gesetzt. Dean neigte auf der Bühne zum Überschnappen. John Kerry machte schließlich das Rennen.

Doch Gore, der Verlierer, hatte immerhin Freiheit gewonnen. Als einer von ganz wenigen Demokraten kritisierte er zu einer Zeit, als Hillary Clinton Bush noch eifrig beklatschte, den Irak-Feldzug und die Einschränkung von Bürgerrechten im Namen des Kampfs gegen den Terror. "Das Chaos nach einem militärischen Sieg kann für die Vereinigten Staaten leicht eine größere Gefahr bedeuten als die, der wir gegenwärtig mit Saddam ausgesetzt sind", sagte er im Herbst 2002. Seitdem werden ihm prophetische Fähigkeiten zugesprochen.

Gore, dessen privates Vermögen auf etwa 100 Millionen Dollar geschätzt wird, gründete eine Fondsgesellschaft zur Investition in nachhaltige und umweltbewusste Firmen. Er rief den Fernsehsender Current TV ins Leben, der als Plattform für Zuschauerpartizipation konzipiert war ("inspiriert von Jürgen Habermas und Theodor Adorno", sagte er). Doch die meiste Zeit verbrachte er damit, um die Welt zu fliegen und jedem, der sie sehen wollte, seine "Diashow" vorzuführen, seinen weit über tausend Mal vorgetragenen, flammenden Multimedia-Appell für sofortige Maßnahmen zum Schutz des Klimas. Gore zeigte Zahlenkolonnen, Kurven, die steil nach oben führten, ertrinkende Eisbären und rauchende Schlote. Die Diashow war überzeugend und beeindruckend. Aber erst, als der Regisseur David Guggenheim Gores Auftritte zu einem Dokumentarfilm verarbeitete, begann sein Stern aufzugehen. Guggenheim ist der Erfinder von Gores neuer Persona.

Der Titel des Films - "Eine unbequeme Wahrheit"- erschien wie eine letzte Referenz an Gores früheres Pedantentum. Auch die Diagramme, die steife Körpersprache und die bemühten Momente der Heiterkeit sind noch da. Und natürlich der moralische Ton. Doch Guggenheim zeigt Gore nicht als Autor des Films, sondern als dessen Helden. Er stellt das Umweltthema nicht als bloßes Anliegen von Gore dar, sondern als zwangsläufigen Fluchtpunkt einer ganzen Biographie, in der der Beinahetod von Gores Sohns bei einem Unfall ebenso seinen Platz hat wie der Tod der Schwester an Lungenkrebs und die Niederlage gegen Bush. Das gibt dem Film, seinem Thema zum Trotz, nicht nur eine emotionale Wucht und Authentizität. Es erschafft auch einen völlig neuen, einen paradoxen Al Gore. Er ist gleichzeitig menschlicher und größer denn je. Gore ist ein Mann mit einer Mission. Wer im heutigen Washington kann das von sich behaupten?

Seine eigene, in Umweltfragen wenig ruhmreiche Vergangenheit klammert Gore geschickt aus. Ebenso wenig Konkretes sagt er darüber, wie die so düster dargestellten Probleme zu lösen seien. Ja, Verzicht und Einschränkung seien unumgänglich, deutet er an. Doch der Film schließt mit einem volltönenden Happy End: Wir schaffen die Umkehr! Technisch ist sie längst möglich, nun müssen wir sie nur noch politisch durchsetzen.

"Eine unbequeme Wahrheit" ist der dritterfolgreichste Dokumentarfilm aller Zeiten. Doch für Gore war er nur eine weitere Stufe in seiner hochprofessionellen Mobilisierungskampagne. Es folgte das Buch zum Film, der Auftritt bei der Oscar-Verleihung im Februar 2007, wo er für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, schließlich das weltumspannende Live-Earth-Konzert im Juli. In Freunden wie Leonardo DiCaprio und anderen einflussreichen Hollywoodgrößen findet Gore prominente Lautsprecher. Und bei jedem Schritt lenkt er die von seiner Botschaft Bewegten auf seine Website, sammelt die E-Mail-Adressen derer, die etwas tun wollen, aber nicht wissen was - und erreicht so beim nächsten Mal noch mehr von ihnen.

Gedrängt zur Kandidatur

Doch Gore wollte nicht der Klimaclown werden, sich nicht reduzieren lassen auf das eine Thema das eine Thema. Kaum ebbte der weltweite Hall des Films ab, brachte er im Sommer ein neues Buch heraus. "Assault on Reason", Angriff auf die Vernunft, ist eine ernste, anspruchsvolle Abrechnung mit den Bush-Jahren und eine weit ausholende Kritik der amerikanischen Kultur. Gore scheut nicht davor zurück, das Fernsehen zu verdammen, das Partizipation verhindere und ein ganzes Volk in sedierter Bewegungslosigkeit ins Sofa drücke. Nicht jede seiner Thesen überzeugte. Dennoch hebt sein vehementes Einfordern der für Amerika einst so zentralen Werte der Aufklärung, für Wahrheit und Vernunft das Buch aus den Bergen eitler Staatsmannschwarten heraus, die jedes Jahr auf den US-Buchmarkt geworfen werden.

Nur eines war dieses Buch nicht: das Wahlmanifest, das sich viele erhofft hatten. Spätestens, seitdem er mit seinem Filmerfolg gezeigt hat, dass er die Öffentlichkeit nicht scheut, seitdem die anderen Demokraten einsehen mussten, wie richtig er mit seiner Kritik am Irakkrieg lag, seitdem mit dem Hurrikan Katrina auch in den USA erkannt wurde, wie brisant die Folgen der globalen Erwärmung sind - seitdem gilt Gore als Traumkandidat von Millionen für die Präsidentschaft. Als einziger, der wirklich die Größe besitzt, die Schäden, die die Bush-Regierung angerichtet hat, zu reparieren.

Wo immer Gore auch hinkommt: Immer erwartet ihn schon eine Traube Menschen. Die Initiative "Draft Gore", die ihn zum Kandidieren bewegen will, zählt derzeit 136 000 Unterstützer. Mit seiner Rede bei der Oscar-Verleihung, die als Erklärung der Kandidatur zu beginnen schien, nur um dann vom Orchester unterbrochen zu werden, hatte er den Spekulationen in seltener Koketterie Nahrung gegeben. Erst vor zwei Tagen hat "Draft Gore" eine ganzseitige Anzeige mit einem "Offenen Brief an Al Gore" in der New York Times geschaltet, in der er in pathetischen Worten - "Amerika und die Welt braucht einen Helden" - bekniet wurde zu kandidieren.

Doch er wiederholt gebetsmühlenartig, er habe genug von der Parteipolitik, er könne "als Bürger" mehr bewirken - und lässt die Tür sorgfältig doch immer noch einen winzigen Spalt breit offen. Mittlerweile aber sind die Chancen rapide geschwunden. Hillary Clintons Führung vor John Edwards und Barack Obama scheint nicht mehr einholbar. Sich jetzt noch in dieses Rennen zu werfen, eine blutige Schlacht gegen die Frau des einstigen Chefs zu führen, das läge wohl weder in der Natur des alten noch des neuen Al Gore.

© SZ vom 13.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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