Frankreich:Von der Nacht zum Tag

Lesezeit: 3 min

In Frankreich tut sich was. Seit Monaten schlafen Tausende Flüchtlinge auf der Straße - jetzt, plötzlich, baut Paris Unterkünfte. Nur Präsident François Hollande ist noch zögerlich.

Von Christian Wernicke, Paris

Als "Stadt des Lichts" rühmt sich Paris. Doch hier, in der engen Rue Hermel neben dem Rathaus des 18. Arrondissements, herrscht Finsternis. Am helllichten Tag: 80, vielleicht 90 junge Männer hocken gelangweilt auf dem Trottoir. Sie reden, schweigen, warten. In einer Ecke dösen drei Gestalten auf dreckigen Matratzen, die haben neulich ein paar Nachbarn vorbeigebracht. Hinten am gusseisernen Zaun wabert Uringestank durch die Luft. Hier liegt Ahmed Abdullatif, der Hüne aus dem Südsudan. Drei andere Flüchtlinge bestaunen den weißen Verband an seinem linken Knöchel: Im Morgengrauen ist ein Kleinwagen über seinen Fuß gerollt. "Ich hab' mich wohl zu weit ausgestreckt", sagt der Flüchtling und lächelt gequält, "der Bürgersteig ist recht schmal."

Seit genau einer Woche lagern die Flüchtlinge im Schatten des Bezirks-Rathauses. Hoch über ihnen, im hellen Sandstein des Portals, prangt das Versprechen der Republik: "Liberté - Égalité - Fraternité". Von all den Beamten, die in der Behörde arbeiten, habe sich noch keiner bei ihnen blicken lassen, schwört Abdel Abdarhaman, ein 42-jähriger Asylbewerber aus Tschad: "Nicht ein einziger!" Seit vier Monaten zieht der Mann, der über Libyen und das Mittelmeer an die Seine kam, durch Paris. Bis Juni hatte er eine Bleibe, er schlief in einem Zelt unter einer Metro-Brücke. Dann räumte die Polizei das Lager, seither sucht sich Abdarhaman jeden Abend einen neuen Schlafplatz. Die vorige Nacht hat er da gelegen, wo die Flüchtlinge ihr Transparent ans Rathausgitter geknotet haben. Mit ihrem eigenen Dreisatz: "Wohnung, Dokumente, Würde". Abdarhaman sagt, dass nachts immer dieselbe Angst in ihm hochkriecht, "die Angst vor Frankreichs Winter".

Noch vor zehn Tagen sah es düster aus für Abdel Abdarhaman. Paris, die globale Metropole, gab sich überfordert vom Elend der Welt. 1450 Flüchtlinge hat die Stadtverwaltung seit dem Frühsommer untergebracht, aber mindestens 900 weitere hausen seit Monaten in Ruinen, unter Brücken, in Parks. Die linke Bürgermeisterin Anne Hidalgo setzte sich zwar für mehr Notunterkünfte ein. Aber der mächtige Zentralstaat, an der Spitze ihr sozialistischer Parteifreund François Hollande, zauderte. Und die Opposition im Stadtrat mauerte: Wer neue Lager errichte, so argumentierten die konservativen Republikaner, der locke noch mehr Flüchtlinge an. Den 500 Menschen, die am Seine-Quai nahe des Bahnhofs Austerlitz gestrandet waren, wurden zwar bereits im Juli feste Herbergen versprochen. Aber nichts geschah.

Doch siehe da, jetzt bessert sich die Lage. Urplötzlich ist Platz. Seit Montag nämlich nennt Präsident Hollande das Recht auf Asyl einen Teil "von Fleisch und Seele Frankreichs", beschwört er "Humanität und Verantwortung" gegenüber Flüchtlingen als Staatsräson. Seit Dienstag rollen die Busse aus München, die innerhalb weniger Tage "Deutschland entlasten" und 1000 Menschen in den Großraum Paris bringen sollen. Und am Donnerstag verkündete Bürgermeisterin Hidalgo in einer Feierstunde im prächtigen Rathaussaal, man habe 460 neue Unterkünfte für bisher obdachlose Asylbewerber aus dem Boden gestampft: "Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg."

Eine Gruppe Flüchtlinge versucht, durch den Wald von Serbien nach Ungarn zu gelangen. (Foto: Dan Kitwood/Getty)

Beim Festakt dabei war auch Pierre Henry, der Direktor der Hilfsorganisation "France terre d'asile". Der 60-jährige Mann pries per Grußwort den Einsatz der Stadt - und erwähnte, wer nachgeholfen habe beim Umdenken: "Frau Merkel hat die Ehre Europas bewahrt", lobte der Menschenrechtler das deutsche Vorbild, das jeden Abend auf Frankreichs Fernsehschirmen zu besichtigen ist. Im persönlichen Gespräch beklagt Pierre Henry sehr wohl, sein Land habe angesichts des Flüchtlingsdramas bisher nicht genug getan. Er fordert mehr Notunterkünfte, mehr Geld für Sprachkurse und langfristige Integration. Und doch ist der Menschenrechtler optimistisch: "Jeder zweite Franzose erklärt, wir sollten mehr Flüchtlinge aufnehmen", sagt Henry. Das sei "beachtenswert" in einem politischen Klima, das seit 15 Jahren von der Propaganda des rechtsextremen Front National vergiftet wird. Zentral hält Henry aber ein Umdenken ganz oben. "Die Verantwortlichen müssen endlich aufhören, Angst vor der Angst anderer zu haben." Es sei Zeit für klare Signale: "Wenn die Politik führt, wird die öffentliche Meinung folgen."

Auf wen er da wartet? "Na, auf den Präsidenten der Republik natürlich!" Nur: Die ganz große Geste mag sich das Staatsoberhaupt noch nicht zutrauen. SZ-Anfragen, ob der Mann aus seinem Palast demnächst zum symbolischen Besuch in ein Flüchtlingsheim aufbrechen werde, verhallten im Élysée bislang ohne Echo. Aber die Stimmung kippt: Innerhalb einer Woche zählte der Sender BFM-TV neun Prozent mehr Franzosen (53 Prozent), die - nach deutschem Vorbild - ihr Land öffnen wollen für Verfolgte. Meinungsforscher Bernard Sananès erklärt diesen Trend mit zwei Effekten: Das Foto von Aylan, dem toten Flüchtlingskind am Strand, sei "ein Weckruf" gewesen - und zweitens hätten seine Landsleute "angesichts der Bilder aus Deutschland ein schlechtes Gewissen". Dass ausgerechnet der sonst so rigorose Nachbar im Osten so viel Herz zeige - "das hat überrascht".

Politbarometer: Eine deutliche Mehrheit der Bürger ist mit der deutschen Flüchtlingspolitik einverstanden, rechnet aber nicht mit der Hilfe anderer EU-Staaten. So bezeichneten 66 Prozent der Befragten die Entscheidung, Zehntausende Flüchtlinge aus Ungarn einreisen zu lassen, als richtig. 29 Prozent sehen das nicht so. 85 Prozent gehen davon aus, dass diese Entscheidung zur Folge hat, dass sich noch mehr Flüchtlinge Richtung Deutschland auf den Weg machen werden, 12 Prozent meinen das nicht. 62 Prozent (August: 60 Prozent) sind überzeugt, dass Deutschland die vielen Flüchtlinge auch verkraften kann, 35 Prozent (August: 37) sehen das anders. (Foto: SZ Grafik)

Die Nation rafft sich auf. Der Staat mobilisiert von oben, täglich melden sich mehr freiwillige Helfer. Die Flüchtlinge, lange im Schatten ignoriert, rücken ins Zentrum der Debatte. Der Linken, sonst elendig zerstritten über Hollandes Reformkurs, dient die Solidarität mit den Flüchtlingen als seltener Kitt. Auf der anderen Seite hetzt Marine Le Pen, Chefin des rechtsextremen Front National, heftiger denn je - sie muss den Zank mit ihrem greisen Vater vergessen machen.

Lediglich Frankreichs Republikaner wirken hilflos. Mehrere konservative Bürgermeister blamierten sich, als sie - trotz päpstlicher Mahnung - erklärten, sie würden allenfalls christliche Flüchtlinge aufnehmen. Oppositionsführer Nicolas Sarkozy orakelte von "einem Zerfall der französischen Gesellschaft" und geißelte EU-Quoten für Flüchtlinge. Gegen Hollande, trotz Merkel. Gedanken, finster wie die Nacht im 18. Arrondissement.

© SZ vom 12.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: