Frankreich:Revolution statt Reform

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In Paris ist der Terror zurück, die etablierte Politik steht am Abgrund, die Radikalen sind im Aufwind: Die Franzosen schicken sich an, bei der Präsidentenwahl das Parteiensystem einzureißen.

Von Christian Wernicke

Plötzlich hat der französische Wahlkampf doch noch sein Thema gefunden - den Terror. Nach dem Mordanschlag eines Islamisten am Donnerstagabend auf Frankreichs berühmtester Straße, der Avenue des Champs-Élysées, wetteifern die Kandidaten um präsidentiellen Nimbus: Jeder möchte den Eindruck erwecken, er könne als künftiges Staatsoberhaupt seine 67 Millionen Landsleute besser als die übrigen zehn Aspiranten gegen Bombenleger und Selbstmordattentäter schützen.

Marine Le Pen, die Rechtspopulistin vom Front National, sowie François Fillon, der konservative Republikaner, sprachen am Freitag vom "Krieg", in dem man lebe. Beide müssen zittern um ihren Einzug in die Stichwahl am 7. Mai, prompt präsentierten beide Anti-Terror-Maßnahmen, die in der Tat eher zu einem Land im Krieg als zu einem friedvollen Rechtsstaat passen. Le Pen will härtere Gefängnisstrafen sowie alle Ausländer, die ein Verbrechen oder auch nur ein Vergehen begehen, sofort außer Landes bringen. Mit ihr als Präsidentin, so die FN-Chefin, hätte es die Attentate vom November 2015 nie gegeben: "Alle Täter wären entweder im Gefängnis gewesen - oder ausgewiesen." Fillon wiederum schlug vor, Tausende mutmaßliche Gefährder notfalls auch ohne Richterbeschluss und ohne rechtskräftige Beweise in Lager zu sperren. Jeder Franzose, der sich als Gotteskrieger gegen die eigene Nation stelle, werde ausgebürgert.

(Foto: sz)

So endete, weniger als 48 Stunden vor Öffnung der Wahllokale, eine Kampagne, die mehr Ungewissheit als Klarheit produziert hatte. Vier Kandidaten haben die Chance, es am Sonntag ins Duell um den Élysée-Palast zu schaffen. In einer neuen, noch vor dem Attentat erhobenen Umfrage lag der sozialliberale Pro-Europäer Emmanuel Macron (24 Prozent) vor Le Pen (21,5). Im Bereich der Fehlermarge folgten dahinter der Republikaner Fillon (20) und der Linksradikale Jean-Luc Mélenchon (19,5). Alles bleibt also möglich.

Ein Urnengang ohne klaren Favoriten und ohne zentrales Thema - das sind nach Meinung des Sozialforschers Brice Teinturier zwei Gründe, warum "dies eine Wahl wie keine andere zuvor ist". Zudem fehle diesmal ein Amtsinhaber, der seine Bilanz verteidige, argumentiert der Direktor des Meinungsforschungs-Instituts Ipsos: "Kein Kandidat mag Hollandes Erbe antreten", das mache die Gefechtslage unübersichtlich. Und schließlich fehle ein alter Ordnungsfaktor: "Der Gegensatz zwischen links und rechts ist schwächer denn je", sagt Teinturier. Zwei der vier Favoriten, der Weltbürger Macron und die Nationalistin Le Pen, legen es sogar ausdrücklich darauf an, rechte und linke Wähler in ihren Bewegungen zu vereinen.

Erste Opfer dieser Trends sind die etablierten Parteien. Die noch regierenden Sozialisten (PS) werden mit ihrem Kandidaten Benoît Hamon unter zehn Prozent landen. Von Montag an wird ein Flügelkampf um die Vorherrschaft in dieser Ruine beginnen. Dasselbe Szenario droht den Republikanern, falls Fillon im ersten Wahlgang scheitert. Beide Parteien müssten sich rasant neu aufstellen: Im Juni lauern Parlamentswahlen. Fillon, noch zu Jahresbeginn der haushohe Favorit, trug erheblich dazu bei, dass diese Kampagne ohne Fokus blieb: Der Skandal um die mutmaßliche Scheinbeschäftigung seiner Frau und zweier Kinder machte weit mehr Schlagzeilen als der Streit um die richtige Strategie gegen die Massenarbeitslosigkeit oder "der Krieg" gegen den Terror. Zwei Drittel der Franzosen beklagen "eine Verarmung" des Wahlkampfs. Es regiert eine Stimmung, die der Sozialforscher Teinturier in einem Buch als tiefe Demokratiekrise und "Leck mich"-Haltung beschreibt: 28 Prozent aller Wähler bekunden, sie werden am Sonntag ihre Stimme verweigern. Die Partei der Nichtwähler wird insofern stärker sein als jeder Wahlsieger.

40 Prozent der Franzosen werden - mindestens - für Radikale votieren, für Le Pen auf der extremen Rechten oder Mélenchon auf der radikalen Linken. Acht der elf Kandidaten wollen auf die eine oder andere Weise raus aus dem Euro und Europa. Brüssel (und dahinter auch Berlin) sind Chiffren geworden für "Reformen" und Sparzwänge, die ein Großteil der Bevölkerung ablehnt. Die Franzosen machen per Stimmabgabe Revolution, um Reformen zu vermeiden. Alles soll sich ändern, damit es bleibt, wie es ist.

Der Eliten-Verdruss hat zur Folge, dass alle Möchtegern-Präsidenten sich nun als "Anti-System-Kandidaten" verkaufen: Le Pen, deren Partei sich mit fragwürdigen Tricks in EU-Kassen bediente, schimpft auf "le système" ebenso wie Fillon, der seit bald vier Jahrzehnten Berufspolitiker ist. Der Republikaner sieht sich als Opfer der Medien und eines von der Regierung inszenierten "Staatsstreichs". Sogar Macron, Absolvent von Eliteschulen wie Ziehsohn von Amtsinhaber Hollande, präsentiert sich als Revolutionär - gegen das Parteiensystem nämlich.

© SZ vom 22.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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