Frankreich:Die Bürger wüten weiter

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Protestierende in gelben Westen blockieren ein Öldepot in Montabon im Nordwesten Frankreichs. (Foto: Jean-Francois Monier/AFP)
  • Die Regierung setzt angesichts der teils gewaltsamen Proteste die Pläne für eine neue Steuer auf Benzin und Diesel aus.
  • Doch den "Gelben Westen" geht es inzwischen um viel mehr.
  • Inzwischen wollen Lastwagenfahrer und Landwirte demonstrieren, Gymnasiasten blockieren Schulen, Studenten bestreiken Universitäten, Bahnmitarbeiter werden zum zivilen Ungehorsam aufgerufen.
  • Sozialisten, Kommunisten, Rechte und die größte linke Oppositionspartei France Insoumise stellen sich inzwischen hinter die Demonstranten.

Von Nadia Pantel, Paris

Noch nie wirkte die Regierung von Emmanuel Macron so schwach wie in dieser Woche. Maximal verdruckst zog sie am Mittwochabend die Steuererhöhung auf Benzin und Diesel zurück, die zu einem Volksaufstand geführt hatte. Es war ein Wegducken in drei Akten:

Am Dienstag verkündete Premierminister Édouard Philippe, die Erhöhung der Steuer werde zunächst für sechs Monate ausgesetzt. Am Mittwochnachmittag sagte er vor der Nationalversammlung, die Steuer werde nicht kommen, wenn sich "keine guten Lösungen finden lassen". Am Mittwochabend sorgte endlich der Umweltminister für Klarheit: keine Steuer, Pläne gecancelt.

Die rechtsradikale Marine Le Pen sieht sich an der Spitze des Aufstands

Als später am Abend Vertreter der Bewegung der "Gelben Westen" im Fernsehstudio von BFM sitzen, um mit eben diesem Umweltminister zu diskutieren, haben die Zornigen den Rückzug der Regierung noch gar nicht mitbekommen. Nach zwei Stunden Streit kann man kurz vor Mitternacht festhalten: Die Steuer ist ihnen mittlerweile fast egal. Die Mächtigen ziehen sich zurück, die Bürger wüten weiter.

Die neongelbe Warnweste ist in Frankreich zu einem Wiedererkennungszeichen aller Unzufriedenen geworden. Täglich wächst die Liste der Gruppen, die sich dem Aufstand anschließen. Lastwagenfahrer und Landwirte wollen in der kommenden Woche streiken. Gymnasiasten in Marseille, Paris, Lyon und Toulouse blockieren ihre Schulen und liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Studenten bestreiken die Universitäten.

SZ JetztFrankreich
:Sprecher der "Gelben Westen" will Élysée-Palast stürmen

Éric Drouet ist einer von acht Sprechern der extrem heterogenen Protestbewegung. Zuvor hatte er Gewalt noch abgelehnt.

Von Sophie Aschenbrenner

Krankenwagenfahrer sperren den Place de la Concorde in Paris. Die Bahngewerkschaft Sud Rail ruft ihre Mitarbeiter zum zivilen Ungehorsam auf; wer mit gelber Weste unterwegs ist, soll am Samstag nicht kontrolliert werden, damit die Menschen gratis zur Großdemo nach Paris kommen können.

Zu den Bürgerbewegungen gesellen sich die Politiker. Sozialisten, Kommunisten und die größte linke Oppositionspartei France Insoumise wollen am Montag ein Misstrauensvotum gegen die Regierung auf den Weg bringen. Und die rechtsradikale Marine Le Pen sieht sich an der Spitze des Aufstands. "Ich bin ein Gilet jaune der ersten Stunde", sagte sie am Mittwoch dem TV-Sender TF1.

Die Forderungen, die sich unter dem Schutz der Weste sammeln, sind in ihrer Vielfalt unübersichtlich. Die Landwirte sind gegen ein Verbot von Glyphosat. Die Krankenwagenfahrer wollen verhindern, dass Kranke künftig auch von Uber-Fahrern transportiert werden dürfen. Die Schüler haben Angst, vom neuen Vergabesystem für Studienplätze aussortiert zu werden. Die Studenten erklären sich solidarisch mit Nicht-EU-Ausländern, die in Frankreich künftig vergleichsweise hohe Studiengebühren zahlen sollen. Jeder sieht in dieser gelben Stunde den Moment gekommen, auf sich und seine Agenda aufmerksam zu machen.

Fragt man nach politischen Lösungen, wird es widersprüchlich. Die Linken wollen eine sechste Republik, also ein Ende des starken Präsidenten. In den Facebookgruppen der "Gelben Westen" wünschen sich viele mehr Volksabstimmungen. Ein Westenträger fantasiert im Fernsehen darüber, ob ein Militär an der Spitze des Staates nicht eigentlich die beste Lösung wäre. Und Le Pen empfiehlt naturgemäß ihre Partei Rassemblement National als Heilsbringerin des Landes.

"Was soll passieren, wenn Macron weg ist?" Die BFM-Moderatorin Ruth Elkrief stellt diese Frage in der Live-Diskussion am Mittwochabend immer wieder. Zuvor hat sie sich bemerkenswert gelassen angehört, wie der Gelbwesten-Vertreter Eric Drouet erklärt hat, man wolle am Samstag "ins Élysée". Drouet spricht vom Sturm auf den Präsidentenpalast, als sei es ein friedfertiger Spaziergang.

Und was dann? "Dann fahren sie Bus, wie wir anderen auch", sagt eine von Drouets Mitstreiterinnen und zeigt auf die beiden anwesenden Minister Marlène Schiappa (Gleichstellung der Geschlechter) und François de Rugy (Umwelt). In diesem Moment vermischt sich alles: Umsturz-Fantasien, Zorn auf die Eliten, Überdruss an der eigenen finanziellen Not.

Der Chef des französischen Meinungsinstituts Ifop, Jérôme Fourquet, hat in einer ausführlichen Studie für die Stiftung Jean Jaurès die Wurzeln dieser Bewegung untersucht, die inzwischen zur Projektionsfläche für alle Macron-Müden geworden ist. Fourquet grenzt das Milieu, das sich als allererstes die gelben Westen übergezogen hat, klar ein: Es ist die untere Mittelschicht des ländlichen Frankreichs. Menschen, die nur knapp über die Runden kommen, die durch fehlende Infrastruktur auf ihr Auto angewiesen sind und die es sofort auf ihrem Konto bemerken, wenn der Benzinpreis steigt.

Proteste in Frankreich
:Mehr als 700 Schüler vorübergehend festgenommen

Tausende Schüler hatten unter anderem gegen härtere Auswahlverfahren beim Hochschulzugang protestiert. Vielerorts kam es zu Gewalt.

Ihr Protest war zunächst sehr konkret, sie wehrten sich gegen steigende Spritpreise. Doch je länger sie gemeinsam an ihren Straßenblockaden standen, desto grundlegender wurde ihre Wut. Es ging nicht mehr um eine neue Steuer, es ging um ein Gefühl der Erniedrigung. Nun ist die Steuer weg, das Gefühl ist gewachsen.

Kämpfen für die Armen

Fourquet beschreibt, wie Angestellte und Selbständige in Vororten und Kleinstädten durch die steigenden Lebenskosten Monat für Monat wieder bei null landen. Das Geld reicht knapp für Miete und Essen, es reicht nicht mehr, um mit den Kindern in den Freizeitpark zu fahren oder um zu zweit ins Restaurant zu gehen. Sie wollen ihre Kaufkraft zurück, auf diese Forderung können sich alle "Gilets jaunes" einigen. Hinter diesem Wunsch steht die Erkenntnis, dass sie es sich nicht mehr leisten können, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

In Deutschland rufen die "Gelben Westen" vor allen Dingen in AfD-Kreisen Begeisterung hervor. Die Verwandtschaft zwischen AfD und "Gelben Westen" muss man relativieren, wenn es um rechtsextreme Positionen geht. Anders als in Deutschland, muss man in Frankreich keine Partei neu gründen, wenn man offen gegen Muslime und Ausländer hetzen will. Der Rassemblement National, früher Front National, zeigt seit Jahren, wie eine rechtsextreme Partei die gesamte gesellschaftliche Debatte nach rechts verschieben kann.

Parallelen zwischen der AfD und den "Gelben Westen" kann man jedoch dann ziehen, wenn man die AfD in erster Linie als Partei derer betrachtet, die sich selbst lange als Mitte der Gesellschaft betrachtet haben und die nun das Gefühl haben, an ihren Rand geraten zu sein. Bei der AfD gilt das inzwischen vor allen Dingen für die politischen Überzeugungen. Die "Gelben Westen" hingegen eint weniger die Ideologie als die Herkunft. An den Straßensperren entstand ein Selbstverständnis, das die Bewegung bis heute trägt: Wir kämpfen für die Armen.

Diesen Grundimpuls unterstützt die Mehrheit der Franzosen weiterhin, auch nach Rücknahme der Ökosteuer. Laut einer Umfrage des Instituts Elabe begrüßen 72 Prozent der Franzosen die Aktionen der "Gilets jaunes". Daran ändert weder die Tatsache etwas, dass in den Facebook-Foren der "Gelben Westen" zunehmend rechte Verschwörungstheorien verbreitet werden, noch der Umstand, dass viele in der Bewegung ohne großes Zaudern gewalttätig wurden.

Die These von friedlichen Warnwestenträgern, die Opfer von Profirandalierern wurden, lässt sich seit dem 1. Dezember nicht mehr halten. Die Männer, die in diesen Tagen von der Pariser Staatsanwaltschaft für Brandstiftung, Angriffe auf Polizisten und Plünderung angeklagt werden, sind häufig Familienväter ohne Vorstrafen, die mit gelber Weste nach Paris gereist sind. So wie sie es am kommenden Wochenende wieder tun wollen.

© SZ vom 07.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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