Frankreich:Furcht vor Funkenflug

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Musikalischer Protest: Orchester an der Pariser Place de la République, wo die Bewegung "Nuit Debout" demonstriert. Arbeiter sind aber kaum dabei. (Foto: Kamil Zihnioglu/AP)

Die Gewerkschaften riefen erstmals seit Jahren gemeinsam zu Mai-Demonstrationen - und es folgten Zehntausende. Präsident Hollandes Wähler schwanken zwischen Frust und Wut.

Von Christian Wernicke, Paris

Der gemeinsame Feind eint. Erstmals seit sieben Jahren haben sich Frankreichs zerstrittene Gewerkschaften am Sonntag zu gemeinsamen Mai-Demonstrationen aufgerafft. Hinter roten Fahnen marschierten Zehntausende Franzosen in allen Großstädten - um ausgerechnet gegen einen Präsidenten zu rebellieren, den sie vor genau vier Jahren noch selbst gewählt hatten: Die Linke protestierte gegen François Hollande, den Sozialisten im Élysée-Palast, und gegen dessen Pläne, das Arbeitsrecht zu liberalisieren.

In Paris beteiligten sich zahlreiche Sympathisanten der Bewegung "Nuit Debout", die seit einem Monat die Place de la République besetzt hält. Beide Seiten - traditionelle Gewerkschafter wie junge "Aufrechte der Nacht" - beschworen in Sprechchören den "gemeinsamen Kampf" gegen die Arbeitsrechts-Reform, über die von Dienstag an die Nationalversammlung berät.

Nach brutalen Ausschreitungen vorige Woche, bei denen landesweit 214 Demonstranten festgenommen und 78 Polizisten verletzt worden waren, hatte die Regierung allein in Paris 3000 Sicherheitskräfte aufgeboten, um gegen Provokateure und Gewalttäter vorzugehen. Gegen Ende der Demonstration in der Hauptstadt bewarfen maskierte Randalierer die Polizei mit Steinen, die Beamten antworteten mit Tränengas und Schlagstöcken. Innenminister Bernard Cazeneuve hatte die Gewerkschaften ermahnt, ihre eigenen Ordnungsdienste müssten schärfer gegen Randalierer vorgehen. Nachdem Mitglieder eines "Schwarzen Blocks" in der Nacht zum Freitag nahe der Place de la République mehrere Autos angezündet hatten, bedauerten die Aktivisten der "Nuit Debout" per Erklärung zwar "Gewalttaten, die unsere Bewegung diskreditieren". Bei den nächtlichen Debatten mahnten jedoch Protestierer wiederholt, man dürfe sich "von den Mächtigen nicht spalten lassen".

In Paris regiert die Ungewissheit. Niemand - weder die Regierung noch Gewerkschafter oder Vordenker der nächtlichen "Aufrechten" - weiß momentan, ob Frankreich ein heißer Frühling droht. Eine Umfrage des Parisien zum 1. Mai warnt: Sieben von zehn Franzosen wähnen ihre Nation derzeit "im Klassenkampf".

Die Dauerprotestierer werden weniger. Aber sie werden radikaler

Präsident Hollande und sein Premier Manuel Valls haben bisher auf eine Strategie von Zuckerbrot und Peitsche gesetzt. Politisch versuchten beide, die Widerstände mit deutlichen Abstrichen gegenüber der ursprünglich angestrebten Reform des Arbeitsrechts zu dämpfen: So werden Abfindungen für entlassene Arbeitnehmer nun doch nicht gedeckelt, auch soll die Lockerung des Kündigungsschutzes weniger drastisch ausfallen. Zudem versprach Valls Schülern und Studenten neue Förderprogramme von 500 Millionen Euro jährlich. Das wirkte, gemäßigte Gewerkschaften und Schülerverbände gehen seither nicht mehr auf die Straße. Die Zahl der Demonstranten sank - zugleich aber radikalisierte sich der Protest, wuchs die Gewalt. Diese Eskalation soll nun die Polizei ersticken - mit mehr Tränengas und Härte als bisher.

Im Élysée-Palast gibt man sich zuversichtlich, dass diese Doppelstrategie aufgeht. Sicher, man müsse noch aufpassen, dass sich die "Ausdünstungen des Widerstands" nun schnell in Luft auflösen, räumt ein Präsidentenberater anonym gegenüber Le Monde ein. Aber jetzt sei das Parlament am Zug, man habe die Lage im Griff. Und die spontanen, von nichts und niemandem organisierten Nacht-Spektakel auf der Place de la République? Da hofft der Hollande-Vertraute auf schlichte Erschöpfung: "Wir lassen sie müde werden."

Tatsächlich mehrten sich zuletzt die Anzeichen, dass die "Nacht im Stehen" auf der Stelle tritt. Zwar kommen nach wie vor gegen Sonnenuntergang allabendlich einige Hundert meist junge Protestierer auf die Place de la République. Geduldig erörtern sie die Weltlage - von der Unterdrückung in Tibet bis zum Notstand in Paris. Vorige Woche kam auch Philippe Martinez vorbei, der Vorsitzende der linken Gewerkschaft CGT. Der Mann mit dem dicken Schnauzbart beschwor "die gemeinsamen Werte", die seine 700 000 Mitglieder mit den "Aufrechten" teilten. In Sprechchören erwiderten etliche der jungen Zuhörer, der Arbeiterführer möge doch nun endlich einen Generalstreik verkünden: "Grève générale, grève générale!" Aber da bremste Martinez die vorrevolutionären Träume. So ein Streik organisiere sich nun mal nicht von selbst: "Zuvor müssen wir dazu die Arbeitnehmer überzeugen!"

Genau das aber ist der "Nuit Debout" bisher nicht gelungen. Unter den Nachtschwärmern von Paris finden sich kaum Malocher. Es sind Schüler, Studenten, arbeitslose Akademiker, urbane Bourgeoisie mit befristetem Job. Die wahren Opfer von Ungleichheit und Diskriminierung - die Nachfahren maghrebinischer Einwanderer, die Kinder der elenden Vorstädte - zieht es nicht auf die Place de la République. Der linke Filmemacher François Ruffin, ein Idol der "Nuit Debout", räumt diese Schwäche offen ein. Fast alle Aktivisten seien wie er selbst. "Ich sage das ohne Verachtung: Es ist das mehr oder weniger prekäre Bildungsbürgertum." Ruffins Traum, das Proletariat aus den Banlieues in die Hauptstadt zu locken, erfüllte sich bisher nicht.

Dennoch, es rumort. Nach vier Jahren unter Hollande schwankt Frankreichs Linke zwischen Frust und Wut. 65 Prozent aller Sozialisten, so belegt eine von Le Monde vorige Woche veröffentlichte Studie, bekunden mittlerweile, "Frankreichs demokratisches System funktioniert schlecht". Drei Fünftel aller Linken halten die eigene "classe politique" für korrupt, nur noch ein Drittel der Wähler von Hollandes Partei PS traut dem eigenen Abgeordneten. Und 69 Prozent aller Linken wähnen ihre Nation im Niedergang. So bitter, so düster hatten sich bisher nur Wähler der Republikaner geäußert. Oder Anhänger von Marine Le Pen, der Anführerin von Frankreichs rechtsextremem Front National.

Politisch ist das Sprengstoff. Jeder Funkenflug - ob von den Pariser Boulevards oder der Place de la République - bleibt da gefährlich. Aus dem Élysée dringt Raunen, der Präsident halte an seiner Reform des Arbeitsrechts fest. Nur, wie viel er davon am Ende retten kann, ahnt nicht einmal er selbst.

© SZ vom 02.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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