Frankreich:Die Hölle hinter Gittern

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Frankreichs Gefängnisse sind massiv überbelegt - die Regierung will nun ein seit Jahren bekanntes Problem angehen und verspricht 6000 neue Plätze.

Von Christian Wernicke, Paris

Die Zustände sind bekannt, seit Jahren: Drei, manchmal sogar vier Gefangene müssen auf nur neun Quadratmetern ausharren, von den Wänden bröckelt der Putz, die Gitter vorm Fenster verrosten. Jeder dritte Gefangene in der Haftanstalt im südfranzösischen Nîmes hat kein Bett, er schläft auf einer Matratze auf dem Boden, und jetzt im Hochsommer, so erzählt Bernadette Jonquet von der Hilfsorganisation "Observatoire international des prisons", würden in den schlecht belüfteten Zellen bis zu 45 Grad Celsius gemessen: "Die Haftbedingungen sind unerträglich, ja unmenschlich", beklagt die Aktivistin. Manche Häftlinge nennen ihren Knast - einst gebaut für 192 Personen, aktuell bewohnt von 406 Männern und Frauen - schlicht "die Hölle Nîmes".

Darein hinabgestiegen ist am Montag ausgerechnet Manuell Valls, der französische Premierminister. Mit Jean-Jacques Urvoas, dem Justizminister, wollte der Regierungschef ein Zeichen setzen - weniger gegenüber den Häftlingen als gegenüber dem überforderten Gefängnispersonal. "Die Regierung wird handeln", sagte Valls nach seinem zweistündigen Besuch und versprach "einen konkreten, präzisen und finanzierten Plan" zum Aus- und Umbau von Frankreichs 188 Haftanstalten. Der Regierungschef weiß sehr wohl: Nîmes ist nur ein Beispiel von vielen für die Überlastung des Strafvollzugs. Im Juli zählte der Staat exakt 69 375 verurteilte Gefangene und Insassen in Untersuchungshaft - 11 000 mehr als die Zellen eigentlich Plätze bieten. Nicht nur in Nîmes, auch im Großraum Paris sowie in Marseille ist die Zahl der Häftlinge teils doppelt so hoch wie zulässig. Gewerkschafter der Schließer und Wächter warnen vor Meutereien und vor dem Scheitern jedweder Resozialisierung. Auch Justizminister Urvoas mahnte kürzlich, die heutigen Verhältnisse im Knast "verheißen das Unheil von morgen."

Die Zahl der Franzosen, die in Untersuchungshaft sitzen, ist deutlich gestiegen

Dabei sperrt Frankreich nicht mehr Mitbürger ein als andere Länder. Mit einer Rate von 101 Gefangenen pro 100 000 Bürgern liegt die Nation laut Europarat zwar über dem Vergleichswert in Deutschland (81,4). Aber in Frankreich sitzen weniger Straftäter und Verdächtige ein als in Großbritannien (148) oder Spanien (141). Nur hat der Staat über Jahrzehnte schlicht zu wenig in die Renovierung seiner alten Haftanstalten und in neue Sicherheitstrakte investiert: Mit 114 Insassen für 100 Plätze zählt Frankreich laut Europarat zu den sieben von 47 Mitgliedstaaten mit den schlimmsten, weil völlig überfüllten Gefängnissen.

Die Regierung hatte sich eine Entlastung durch eine liberale Reform ihres Strafvollzugs erhofft: Mindeststrafen, die fast automatisch Straftäter hinter Gitter brachten, waren 2014 abgeschafft worden, auch wollte man mehr auf offenen Vollzug setzen. Doch Staatsanwälte und Richter spielten nicht mit und verhängten mehr Haftstrafen als erwartet. Zudem wirft die von Terrorangst und vom seit November währenden Ausnahmezustand erzeugte Stimmung ihren Schatten: Angewachsen ist die Zahl der Franzosen in Untersuchungshaft (plus 13,8 Prozent). Die Zahl rechtskräftig Verurteilter Täter stieg um weniger als ein Hundertstel.

Den Bau neuer, menschlicher Gefängnisse versprechen alle Parteien seit Jahren. Aktuell spricht die linke Regierung von 6000 zusätzlichen Plätzen hinter Gittern bis 2019, die konservative Opposition will 20 000 mehr. Druck bekommt Paris aus Straßburg: Der Europäischen Gerichtshof hat die Republik wiederholt wegen der "erniedrigenden Bedingungen" in ihren Haftanstalten verurteilt. Auch ein Insasse aus Nîmes hat 2015 Klage wegen "unmenschlicher Behandlung" eingereicht. Das Verfahren läuft noch.

© SZ vom 09.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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