Frankreich:Die doppelte Malaise

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Das Land muss dringend sein Wahlsystem ändern. Und 2017 einen überzeugenden Präsidenten wählen. Ein Kandidat steht bereit.

Von Christian Wernicke

Niemand kennt bisher das exakte Datum, doch heute schon spukt der Tag X in den politischen Köpfen von Paris. Ende April und Anfang Mai nächsten Jahres sind die Franzosen zur Präsidentenwahl aufgerufen. Die Kandidaten werden Wunder versprechen und Wandel verheißen, wie immer. In 14 Monaten wird der demokratisch gekürte Monarch in den Élysée-Palast einziehen und eine neue Ära verkünden - um dann kaum etwas ändern zu können. Dabei plagt Frankreich eine doppelten Malaise, seit bald zwei Jahrzehnten.

Zum einen scheut die einst große Nation die Anpassung an die globale Wirklichkeit: Zwei konservative Präsidenten (Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy) sowie nun der sozialistische Amtsinhaber François Hollande haben es versäumt, den sklerotischen Staatsapparat zu modernisieren. Es ist bekannt, dass das starre Arbeitsrecht, die 35-Stunden-Woche und berufsständische Privilegien die Entwicklung hemmen, dennoch bringt die politische Klasse nicht die Kraft auf zu Reformen. Also stagniert die Wirtschaft, haben 3,6 Millionen Landsleute keinen Job.

Gesucht: ein neues Wahlrecht und ein überzeugender Präsident

Das verbittert - und verschlimmert die zweite französische Krankheit: den tiefen Missmut der Bürger über ihre politische Klasse. Nur zwölf Prozent aller Franzosen bekunden noch Vertrauen in die Parteien. Acht von zehn Citoyens benennen Gefühle wie "Enttäuschung, Abscheu oder Hass". Die Wähler sind den in Frankreich besonders öden Lagerkampf längst satt: Drei Viertel (76 Prozent) wünschen, Linke und Rechte mögen sich endlich auf pragmatische Lösungen verständigen.

Naive Träumerei? Nicht nur. Das Wahljahr 2017 eröffnet Frankreichs Politik eine neue Chance, vielleicht die letzte dieser Epoche. Sollte sich auch der nächste Präsident als unfähig erweisen, das zerrissene Land zu einen und zu erneuern, dann dürfte weitere fünf Jahre später die Machtergreifung der Marine Le Pen samt ihres rechtsextremen Front National nicht mehr abzuwenden sein. Versagt Frankreichs System erneut, steht anno 2022 die V. Republik auf dem Spiel.

Aber so muss es nicht kommen. Denn ja, es gibt Hoffnung. Ausgerechnet einer der ältesten Vertreter der "classe politique" könnte die siechende Nation reanimieren: Alain Juppé, der längst kahlköpfige und schon 70-jährige Republikaner, könnte jener Reformator sein, den die Nation so bitter nötig braucht. Der ehemalige Premierminister kennt Frankreichs innere Schwächen. Und er weiß aus leidvoller Erfahrung, wie und warum Versuche der Erneuerung scheiterten. Es stimmt, dieser Eliteschüler war einst in Skandale um Parteifinanzen verstrickt. Aber er hat sich glaubhaft geläutert. Als moderater Mann einer neuen Mitte ist Juppé der einzige Politiker Frankreichs, dem immerhin jeder zweite Landsmann vertrauen mag: Gemäßigte Konservative, sämtliche Zentristen und auch vernünftige Sozialisten wollen für ihn stimmen.

Wären heute Präsidentschaftswahlen, Juppé säße morgen im Élysée-Palast. Nur muss er sich zunächst in der eigenen Partei gegen seinen Rivalen und Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy durchsetzen. Damit könnte bereits die Vorwahl der Republikaner im November de facto über Frankreichs nächstes Staatsoberhaupt entscheiden. Gewinnt Juppé im Herbst, kann ihn im Frühjahr 2017 wohl niemand mehr stoppen. Weder ein matter Hollande noch eine verbiesterte Marine Le Pen hätte nach Lage der Umfragen eine Chance.

Nur leider, der Sieg des Alain Juppé ist nur die erste Bedingung für Frankreichs Neuanfang. Juppé ist nötig - aber nicht genug. Zweite Voraussetzung wäre, dass der neue Präsident bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 eine hinreichend breite wie zugleich legitime Mehrheit in der Nationalversammlung gewinnt. Genau an dieser Stelle jedoch steht Frankreichs überholtes Wahlrecht der Erneuerung wie der Versöhnung im Weg. Das sture Mehrheitswahlrecht zwingt Linke wie Rechte in längst überholte Scheinkonflikte, die später dann nötige Kompromisse verbauen. Und es produziert in den Augen von Millionen Franzosen undemokratische Ergebnisse. Denn längst hat Frankreich drei gleichstarke Parteien - aber Sozialisten und Republikaner, sonst heillos zerzankt, missbrauchen das Wahlrecht, um die Schmuddelkinder vom Front National mit Notabsprachen vor der entscheidenden Stichwahl auszugrenzen.

Führte man das Verhältniswahlrecht ein, zöge der Front National in viele Hohe Häuser. Aber genau dies würde Sozialisten und Republikaner zwingen, in den Parlamenten Kompromisse zu finden und Koalition zu lernen. Eine solche Allianz der Demokraten und an der Spitze ein Reform-Präsident Alain Juppé könnten Frankreich heilen. Von gleich beiden Krankheiten.

© SZ vom 15.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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