Frank-Walter Steinmeier:Der nette Herr S.

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Eng verbunden: Frank-Walter Steinmeier - hier vor einem Staatsbankett zu Ehren der Queen - hat seiner damals schwer erkrankten Frau Elke Büdenbender 2010 eine Niere gespendet. (Foto: Markus Schreiber/AP)

Abgewogen, gelassen, beherrscht, keine Nerven und bloß keine Gefühle zeigend - so präsentiert sich der Minister der Öffentlichkeit. Manchmal aber, ganz selten, kann er auch anders.

Von Stefan Braun

Sechs Minuten Berlin Alexanderplatz; sie werden Geschichte schreiben, ein bisschen jedenfalls. Frank-Walter Steinmeier will eine Wahlkampfrede halten. Also steht er an diesem Tag im Mai 2014 vor einigen Hundert Leuten und will für Europa werben, für Martin Schulz eintreten und - wenn's gutgeht - für die Sozialdemokraten ein paar Stimmen einsammeln. Ruhig, gelassen, kontrolliert, wie immer halt. Und dann passiert, was kaum einer für möglich hält: Der Außenminister bekommt einen Wutanfall.

Im Hintergrund haben einige Dutzend Claqueure begonnen, gegen die EU, gegen die "Nazis in der Ukraine" und gegen den "Kriegstreiber" Steinmeier zu wettern. Immer lauter werden sie, bis der Minister alles vergisst, was er sich sonst zur Regel gemacht hat - und aus der Haut fährt. "Ihr solltet euch überlegen, wer die Kriegstreiber sind", brüllt er. Nichts hätten sie verstanden, erst recht nicht, was Europa für Frieden und Sicherheit bedeute. Leute wie "die da hinten" seien es gewesen, die in der größten Krise "Raus aus Griechenland! Raus aus der EU! Her mit der D-Mark! und all den anderen Blödsinn" gefordert hätten. Und dann schreit der Minister, ganz außer sich: "Hätten wir auf Leute wie die da hinten gehört, wäre Europa heute kaputt."

Eine gute Viertelstunde dauert der Auftritt, knapp sechs Minuten werden im Internet schnell Furore machen. Steinmeier ganz anders, der Minister im Zornmodus - binnen weniger Tage werden fast drei Millionen Menschen das noch einmal auf Youtube verfolgen. Und Steinmeiers Frau wird ihm am selben Abend sagen, dass ihr das gar nicht gefallen habe, sie wolle ihn so bitte nicht mehr erleben.

"Würde man pausenlos Wutreden halten, würde das Interesse schnell nachlassen."

Nun kann man seine Frau beruhigen: Der Mann ist selten so und wird sich wohl auch nicht mehr ändern. Frank-Walter Steinmeier, 60 Jahre alt, seit 1975 in der SPD und seit 1991 in der Politik, ist berühmt dafür, so gut wie immer das Gegenteil zu repräsentieren: abgewogen, gelassen, selbstbeherrscht, keine Nerven und keine Gefühle zeigend. Er selbst hat wenige Tage nach dem Wutausbruch zwar frustriert gesagt, er habe Tausende Reden gehalten, in Erinnerung bleibe aber nicht das Ausgefeilte, sondern der Ausbruch. Trotzdem wolle er keine Regel draus machen: "Würde man pausenlos Wutreden halten, würde das Interesse schnell nachlassen."

Aus diesem Grund wird sich ein Bundespräsident Steinmeier vom Außenminister Steinmeier an der Stelle kaum unterscheiden. Sollte er Mitte Februar, wie von Union und SPD angekündigt, gewählt werden, wird er an seiner rednerischen Grundlinie sicher festhalten. Manche nennen das langweilig, weil er selten rauft, noch seltener angreift und so gut wie immer um Vermittlung bemüht ist. Andere fühlen sich dagegen eher behütet, wenn er - statt laut zu werden - mahnt, warnt, weitervermittelt und auch dann noch dafür wirbt, wenn Niederlage und Nutzlosigkeit immer wahrscheinlicher erscheinen.

"Wer mit der Angst spielt", so seine beständige Warnung, "spielt mit dem Feuer."

So wie in Tutzing, Mitte September. Steinmeier erhält den Toleranz-Preis der Evangelischen Akademie, und wer Steinmeier und die Resonanz auf ihn verstehen will, konnte es an diesem Abend sehr gut studieren. Nach 36 Stunden Kiew, Kramatorsk und Krieg in der Ostukraine ist er kurz zuvor in München gelandet, um nun vor etwa zweihundert Mitgliedern der bayrischen Gesellschaft über Frieden und Aggression den um sich greifenden Nationalismus und den "illusionslosen Versuch zur friedlichen Lösung von Problemen" zu sprechen. Wer will, könnte das im Rückblick als erste Präsidentenrede interpretieren.

Es sind Sätze wie diese, die Steinmeiers Grundsatzprogramm sein könnten: "Wir müssen helfen, Lösungen auf den Weg zu bringen - auch wenn es schwierig ist, auch wenn das Ziel in weiter Ferne zu sein scheint, auch wenn wir mit Rückschritten und Hindernissen zu kämpfen haben. Auch wenn für viele - bevor der erste Schritt gegangen ist - das Scheitern schon gewiss ist." An diesem Spätsommerabend gibt es dafür viel Beifall; von Ex-Ministerpräsident Günther Beckstein wie vom früheren SPD-Chef Hans-Jochen Vogel und dem Rest der zweihundert.

Dabei redet der Minister nicht nur über die üblichen Konflikte, ob in Syrien oder in der Ostukraine. Er warnt auch "vor dem Ungeheuer Nationalismus" in Deutschland und in Europa, das von Politikern wie dem Holländer Geert Wilders oder der deutschen AfD genährt werde. Deren "Politik der Angst" sei nicht nur feige, sie sei auch gefährlich. "Wer mit der Angst spielt, spielt mit dem Feuer." Für die einen sind das Selbstverständlichkeiten; für andere, nicht zuletzt die in Tutzing, sind es Sätze, die sie zur Selbstvergewisserung hören möchten. Als die Rede zu Ende ist, bleibt der Minister noch geschlagene drei Stunden, weil Vogel, Beckstein und andere nicht aufhören möchten.

Was bei all dem deutlich wird: Wie kaum einer sonst im Kabinett ist Steinmeier als Außenminister in den letzten Jahren mit Themen konfrontiert, die bei immer mehr Menschen immer mehr Ängste auslösen: Russland und die Ukraine, Türkei, Syrien und der Krieg im Nahen Osten - es verging seit 2013 kaum ein Tag, an dem er nicht an dem Bild gearbeitet hat, er bemühe sich auch unter widrigsten Voraussetzungen um ein Ende der Konflikte. Das politische Kleinklein zwischen den Parteien findet seit Beginn der Koalition ohne ihn statt; auch die Flüchtlingskrise ist ohne nennenswerte Nennung seines Namens übers Land gezogen; und auch die ewige Frage, wer die SPD in die nächste Wahl führt, wurde stets ohne ihn abgehandelt. Gut möglich, dass das wichtige Antworten auf die Frage liefert, warum er beliebter ist als alle anderen Politiker in Deutschland.

Selbst die Debatte, ob er Präsident werden könnte, lief nicht mit ihm, sondern über ihn ab. Gleichwohl hat Steinmeier zuletzt immer mehr Gefallen an dem Gedanken gefunden. Ein Blick auf seinen Terminkalender, auf Auftritte, Reden und Pressemitteilungen zeigt schnell, wie sehr er seit Monaten nicht mehr nur als Außenminister wirken wollte. Ob zum Tod von Leonard Cohen oder zum Nobelpreis für Bob Dylan, zum Freiheitspreis in Brandenburg oder dem Historikertag in Hamburg, ob zu den Obdachlosen am Berliner Bahnhof oder der Kunst am Gorki Theater - immer und zu fast jedem hat Steinmeier sich gemeldet. Ruhelos wirkte das bisweilen. Und mancher im Auswärtigen Amt rätselte prompt, ob der Minister ein Jahr vor der nächsten Wahl zum Schlusstremolo anhob - oder eben doch Präsident werden wolle.

In den letzten Monaten wirkte er etwas ruhelos. Dafür gibt es nun eine Erklärung

Die Frage ist nun beantwortet. Und damit dürfte eine bald dreißig jährige Karriere, die als Referent in der Staatskanzlei Hannover begann, im höchsten Amt dieses Staates enden. Eine Karriere, die oft bergauf führte, aber auch jähe Abstürze erlebt hat. Erst ging es bis zum Chef des Kanzleramts unter Gerhard Schröder. Danach folgten schwere Monate, in denen ihm, dem damals neuen Außenminister, der Fall des Deutsch-Türken Murat Kurnaz zusetzte. Fünf Jahre lang saß der auf Betreiben der USA unschuldig im Gefangenenlager Guantanamo - aber erst unter Kanzlerin Angela Merkel durfte er zurück nach Deutschland. Das Bild vom netten Herrn Steinmeier erhielt einen tiefen Kratzer. Zu hart, zu machtkalt wirkte er plötzlich.

Wieder anders sah er im August 2010 aus, nach dem 23-Prozent-Debakel als Kanzlerkandidat. Damals spendete er seiner Frau Elke eine Niere, ohne das groß zu verkünden. Wochen später erzählte er, wie weit weg alle Politik gerade sei - und wie wichtig das Leben. Für einen Moment schien es so, als könnte er aufhören. Das hat sich seit Montag aufs Neue erledigt.

© SZ vom 15.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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