Alles neu macht der Mai. So sagt es der Volksmund. Und so hoffen es Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter. Zwar sind die Fraktionsvorsitzenden der Grünen selbst alles andere als neu. Und bei ihrer Wiederwahl haben die beiden mit gut sechzig Prozent keine ruhmreichen Ergebnisse eingefahren. Doch jetzt setzen sie umso mehr auf neuen Schwung.
Wenn sie am Donnerstag und Freitag in Weimar mit der Fraktion über die eigene Zukunft diskutieren, ist eine Entscheidung schon gefallen: Göring-Eckardt und Hofreiter wollen die eigenen Leute in vielen Fragen noch mal neu denken lassen.
Pünktlich zum Beginn der jährlichen Fraktionsklausur im Goethe-und-Schiller-Städtchen ist öffentlich geworden, wie sich die beiden die kommenden dreieinhalb Jahre in der Opposition vorstellen: Es soll nicht mehr zwischen Wirtschaft und Umwelt, zwischen Sicherheit und Migration getrennt, sondern ausgerechnet die heikelsten Fragen gemeinsam gedacht werden. Grüne Experten sollen nicht mehr nur in ihren angestammten Themen bleiben. In sechs sogenannten Zukunftslaboren sollen die Abgeordneten sich und ihre bisherigen Überzeugungen überprüfen. Man könnte sagen: Sie sollen sich einem Realitätscheck unterziehen.
Was tun gegen Rechtspopulisten?
Am Beispiel "Herausforderungen für die Demokratie" lässt sich erahnen, wie heikel das werden könnte. So heißt es in einem Ideenpapier zum Thema, dass die Grünen "mehr und engagierter denn je" für die liberale Demokratie kämpfen wollen. Nur wenige Zeilen später wird das ergänzt durch die Botschaft: "Bloße Gegenagitation reicht bei weitem nicht aus." Überhaupt müssten die Grünen eingestehen, so schreiben Göring-Eckardt und Hofreiter, dass "noch niemand ein Patentrezept gegen diese Entwicklung parat hat". Selbst innerhalb der eigenen Fraktion gebe es unterschiedliche Erklärungsansätze und Ideen für die "daraus abzuleitenden Konsequenzen".
Das zeigt, wie kontrovers und spannend die Diskussion noch werden kann - sei es bei der Frage nach der Rolle sozialer und wirtschaftlicher Unsicherheiten; sei es bei der Suche nach Antworten auf den Frust über Globalisierung und Finanzkrise, der die Rechtspopulisten füttert. Anderthalb Jahre nach der Wahl von Donald Trump und ein halbes Jahr nach dem Einzug der AfD in den Bundestag stellen sich die Grünen plötzlich Fragen, denen sie bislang gerne aus dem Weg gegangen sind.
Für Göring-Eckardt und Hofreiter dürfte darin genau der Reiz liegen. Nachdem ihnen die Parteispitze im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit aktuell ein wenig das Wasser abgräbt, haben sie selbst Interesse an der Provokation.
Wie umgehen mit der "wachsenden Gruppe" der Abgehängten?
Das lässt sich auch an der zweiten großen Aufgabenstellung ablesen. Beim Thema "Neue soziale Frage" schreibt die Fraktionschefin, hier gehe es zuvorderst nicht um neue Instrumente, sondern um "eine alles übergreifende Gesamterzählung". Und das nicht zuletzt, um sich deutlicher von der Linken und der SPD abzusetzen. Das kann nur heißen, dass die Fraktionschefs tatsächlich neue Wege beschreiten möchten, statt noch einmal in einen Wettbewerb um die Höhe einer Vermögensteuer einzutreten.
Hinzu kommt, dass die Fraktionsspitze den Blick auch in diesem Themenbereich bewusst auf die sogenannten Abgehängten lenkt. "Eine wachsende Gruppe" sei finanziell, sozial, digital oder regional abgehängt; umso mehr stelle sich die Frage, welche Angebote gerade die Grünen diesen Menschen eigentlich machen könnten. Ein erstes Resultat klingt dabei wie ein großer Arbeitsauftrag. Im Einführungstext heißt es: "Eine Antwort, eine Lösung, ein Instrument für alle und alles passt nicht mehr."
Das zeigt, dass die beiden Fraktionsvorsitzenden die eigenen Leute tatsächlich aufwecken möchten. Rezepte für dieses und jenes Detail gebe es ohnehin ausreichend, heißt es in der Fraktionsführung.
Womöglich wurde die Fraktion von der Partei animiert
Insgesamt sechs Großthemen hat die Grünen-Spitze der Fraktion ausgemacht, dazu zählen neben der neuen sozialen Frage auch die Digitalisierung oder das Thema gerechte Globalisierung.
Für die Grünen im Parlament wird das zur Chance und zum Risiko. Zur Chance, weil man die kleinen Themen-Gärtchen in größere eintauscht; zum Risiko, weil Widersprüche im eigenen Denken womöglich ganz neu zutage treten. Zum Beispiel, wenn man sich für die darbenden Bauern in Bangladesch einsetzt, aber ihnen mögliche positive Neuerungen in der Gentechnik oder ihren Nachbarbereichen aus grundsätzlichen Erwägungen verweigert.
Doch so riskant, weil streitanfällig, das alles sein mag - es ist nicht riskanter als das, was die neue Parteiführung um Annalena Baerbock und Robert Habeck mit ihren Thesen zur Verbreiterung der Partei schon angestoßen hat. Womöglich sind die in der Fraktion sogar von denen in der Partei animiert worden. Nach dem Motto: Was ihr könnt, können wir schon lange.