Flüchtlingskrise:Europa handelt doch

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Die Mehrheit der EU-Innenminister hat beschlossen, 120 000 Flüchtlinge auf die Unionsstaaten zu verteilen. Die Gegner wurden überstimmt. Das ist ein demokratischer Fortschritt, doch der Bruch ist gefährlich und geht tief.

Von Daniel Brössler

In der Flüchtlingskrise sind manche über sich hinausgewachsen. Für die Europäische Union gilt das nicht, doch immerhin: Sie hat zu sich selbst gefunden. Die EU-Innenminister haben beschlossen, 120 000 Flüchtlinge über die Union zu verteilen. Das ist eine, gemessen an der Masse der Ankömmlinge, kleine Zahl und doch eine große Entscheidung. Zustande gekommen ist sie durch die schlichte Anwendung des Lissabon-Vertrages, was - so ist die EU - fast schon einer Revolution gleichkommt. In der Not haben die Innenminister zum demokratischen Mittel der Mehrheitsentscheidung gegriffen. Jenem Mittel, das sich die EU gegeben hat, um handlungsfähig zu bleiben.

Dabei entspricht dies gar nicht dem Bild, das sich viele Menschen von einer handlungsfähigen Union machen. Das ist geprägt von Jahren der Euro-Krise, in denen übernächtigte Staats-und Regierungschefs immer aufs Neue in letzter Minute den rettenden Kompromiss gefunden zu haben schienen. Dieses Bild hat sich so verselbständigt, dass im Krisenfall der Ruf nach einem Sondergipfel nicht lange auf sich warten lässt. Er ertönt ganz unabhängig davon, ob die Chefs sinnvollerweise etwas zu entscheiden haben. Und er lässt außer Acht, dass beim Gipfel Zwang zur Einstimmigkeit herrscht, also zum kleinsten gemeinsamen Nenner.

So ist diese Woche, in der die EU sich anschickt, ihre Lähmung in der Flüchtlingskrise zu überwinden, auch zum Test zweier Methoden geworden. Am Dienstagabend, beim Treffen der Innenminister, zeigte die EU sich als Union von Staaten, die wissentlich und willentlich Teile ihrer Souveränität aufgegeben haben - mit der Konsequenz, dass auch Regierungen, die das Verfahren für falsch halten, die Aufnahme von Flüchtlingen nach dem vereinbarten Verteilungsschlüssel umsetzen müssen. Am Mittwochabend dann versammelte sich die EU der Nationalstaaten. Auf sie wird es ankommen, wenn es darum geht, jetzt entstandene Brüche zu überbrücken.

Wie tief und gefährlich diese Brüche sind, zeigt die Tatsache, dass Slowaken, Ungarn, Tschechen und Rumänen es auf eine amtliche Niederlage bei der Entscheidung der Innenminister geradezu angelegt hatten. Nach Monaten, in denen sie die Verteilung von ein paar Tausend Flüchtlingen zum Ende staatlicher Souveränität aufgeblasen haben, treten sie lieber als heldenhafte Verlierer vor ihre Bürger denn als Mitschuldige am vermeintlichen Verbrechen.

Dazu passt, dass Ungarns Premier Viktor Orbán jetzt beim Besuch in Bayern gegen den "moralischen Imperialismus" der deutschen Kanzlerin wettert und der slowakische Regierungschef Robert Fico einer EU der Mehrheitsentscheidungen das Ende prophezeit. Populismus als Mittel zum Machterwerb und Machterhalt ist ein Merkmal der Politik, besonders auch in Mittelosteuropa. Umso bemerkenswerter ist das Ja der polnischen Regierung zur Flüchtlingsverteilung, die kurz vor der Parlamentswahl mit hysterischer Kritik der Nationalkonservativen rechnen muss. EU-Gegner werden den Beschluss von Brüssel nutzen, um die Union als fremde Macht zu diffamieren, die ihren Willen durchsetzt und sich über die Ängste der nationalen Bevölkerungen hinwegsetzt. Sie werden damit umso erfolgreicher sein, je schlechter die Verteilung funktioniert.

Es gibt Argumente aus dem Osten, die nicht einfach wegzuwischen sind. Der Plan sieht vor, dass Asylsuchende an dem Ort bleiben müssen, der ihnen zugewiesen worden ist. Wer nach Deutschland wollte, könnte sich in Lettland wiederfinden. Das wird nicht einfach und könnte das Schengen-System unter weiteren Druck setzen.

Immerhin: Die EU hat Handlungsfähigkeit gezeigt. Nun muss es ihr noch gelingen, dass ihr Plan aufgeht. Dann wüchse sie vielleicht doch noch über sich hinaus.

© SZ vom 24.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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