Flüchtlinge:Neue Richter gesucht

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Seit Jahren ruft die Justiz nach zusätzlichen Stellen - vergebens. Doch nun, weil die Asylverfahren vor den Verwaltungsgerichten zunehmen, wird das Unmögliche machbar.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

800 000. Es ist diese hohe Zahl, die der Debatte über den Umgang mit Asylbewerbern einen Schub verliehen hat. 800 000 Asylbewerber könnten es in diesem Jahr werden, schätzt das Bundesinnenministerium, vier Mal mehr als im Vorjahr. Und weil zum Thema Asyl nicht nur Aufnahmekapazitäten und Abschiebeprozeduren gehören, sondern auch der Rechtsschutz der Betroffenen, sollte man noch eine weitere Zahl kennen: Vier von zehn Asylanträgen landeten im vergangenen Jahr vor Gericht. Das wären dann mehr als 300 000 Verfahren für die gut 1800 deutschen Verwaltungsrichter - die daneben noch die ganze Palette der Verwaltungsprozesse zu bewältigen haben, vom Alkoholverkauf an Tankstellen bis zur Zulässigkeit eines Drogeriemarkt-Baus.

Bricht man die Zahlen herunter, dann wird deutlich, was auf die rund 50 Verwaltungsgerichte zukommt. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf, zuständig für eine Region mit vielen Asylbewerbern, meldet mehr als 3700 neue Verfahren bis Ende Juli, eine Steigerung um 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In Gießen, wo es eine Erstaufnahmestelle gibt, gingen im selben Zeitraum fast 2500 Anträge ein - im gesamten Vorjahr waren es nicht einmal halb so viele. Und schon 2014 waren die Zahlen gestiegen. Das Verwaltungsgericht Potsdam etwa hatte schon damals fast drei Mal so viele Klagen zu bearbeiten wie im Jahr zuvor. Noch drastischer fällt der Anstieg im mehrjährigen Vergleich aus: Das Verwaltungsgericht Regensburg hatte zwischen 2004 und 2012 im Schnitt weniger als 500 Anträge zu bearbeiten: Dieses Jahr werden es wohl 3400, also fast das Siebenfache.

Bayern hat sechzehn neue Richterstellen angekündigt, Sachsen zwanzig

Nun haben die Zahlen bereits ein kleines Wunder bewirkt. Seit Jahren ruft die Justiz nach zusätzlichen Stellen. Doch nun, da es um die "Eindämmung der Asylmigration" (Thomas de Maizière) geht, wird das scheinbar Unmögliche machbar. Bayern hat sechzehn neue Richterstellen angekündigt, Sachsen zwanzig, Nordrhein-Westfalen 22. "Aber das wird wohl nicht reichen", sagt Robert Seegmüller, Vorsitzender des Bundes deutscher Verwaltungsrichter. In Bayern hatte der Verband bereits für 2014 einen Zusatzbedarf von 30 Stellen angemahnt, inzwischen veranschlagt Sabine Lotz-Schimmelpfennig von der Landessektion den Bedarf deutlich höher. Der vor Kurzem pensionierte Präsident des Verwaltungsgerichts Regensburg, Hans Korber, warf eine kühne Zahl in die Debatte: 90 neue Richterstellen seien in den kommenden zwei Jahren nötig, dazu pro Richter eine neue Verwaltungsstelle - allein für Bayern. Rechnet man diesen Ansatz auf die Bundesebene hoch, dann kommt man - bei rund 200 000 Euro jährlich, die man für einen Richter plus einen Angestellten veranschlagen muss - schnell auf einen dreistelligen Millionenbetrag.

Die forsche Forderung des scheidenden Präsidenten mag dem Mut geschuldet sein, die manchen Richter erst im Moment des Abschieds befällt. Klar ist aber: Ohne eine deutliche Aufstockung des Personals wird die Arbeit nicht zu bewältigen sein. Denn am Asylverfahren selbst, das bereits in den Neunzigerjahren bis an die Grenze der Rechtsverweigerung "verschlankt" worden war, lässt sich nicht mehr viel drehen. Seegmüller hat vor einiger Zeit zwar einen Vorschlag präsentiert, der ein wenig Erleichterung bringen könnte. Sein Verband fordert eine vorsichtige Erweiterung des Rechtsschutzes - nicht, um die Verfahren auszudehnen, sondern um grundsätzliche Probleme durch ein Obergericht verbindlich klären zu lassen. Das gilt etwa für die Frage, ob beispielsweise Ungarn oder Bulgarien als sichere Drittstaaten gelten können, sodass Asylbewerber, die über diese Länder eingereist sind, ohne weitere Prüfung dorthin zurückgeschickt werden können. Weil aber Flüchtlinge dort bisweilen unter prekären Bedingungen leben, ist diese Einstufung umstritten. Ein klares Wort könnte hier eine Leitlinie liefern.

Aber vermutlich wäre das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ähnliches gilt für das Vorhaben, weitere Länder in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten aufzunehmen. Dadurch würde zwar der Aufwand für die Begründung der Beschlüsse sinken, sagt Seegmüller. Beispiel Serbien: Früher habe man prüfen müssen, ob Roma dort als Gruppe einer Verfolgung ausgesetzt sind - seit der Einstufung als sicheres Herkunftsland entfalle diese Prüfung. Ob dies freilich eine substanzielle Entlastung bringt, ist zweifelhaft, denn schon jetzt wird die große Mehrzahl der Anträge von Balkanflüchtlingen als offensichtlich unbegründet abgewiesen. Und einen Freibrief zur pauschalen Ablehnung solcher Anträge bietet die Einstufung ohnehin nicht; plausible Behauptungen des Klägers, er werde als Person individuell verfolgt, müssen überprüft werden.

Die Länder werden also Geld für neue Richterstellen bereitstellen müssen - und dies nicht nur, um die Asylverfahren zügig abzuarbeiten. Weil die Vielzahl der Anträ-ge im Eilverfahren überprüft wird, gilt dafür eine Wochenfrist - den Richtern bleibt also nichts anderes übrig, als die Asylverfahren vorrangig zu bearbeiten. Dafür werden sie andere Fälle liegen lassen müssen - den Antrag des Nachbarn gegen den Bau eines Autohauses, die Klage gegen eine geplante Windkraftanlage, die Zulassung eines Bürgerbegehrens. Klagen also mitten aus dem Leben der Bürger. Dass längere Bearbeitungsfristen Unmut bereiten werden, lässt sich vorhersehen. Auch hier geht es übrigens ums Geld: Wenn sich der Bau der Ortsumgehung verzögert, weil die Klage beim Gericht schlummert, trägt die öffentliche Hand die Kosten.

© SZ vom 08.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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