Globale Krise:Vertrieben, verzweifelt, abkassiert

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Lebensgefährliche Überfahrt: ein überfülltes Schlauchboot Mitte Dezember vor dem französischen Küstenort Wimereux im Ärmelkanal. (Foto: Pascal Rossignol/REUTERS)

Immer mehr Menschen weltweit müssen ihre Heimat verlassen. Eine humanitäre Katastrophe - und oft ein Riesengeschäft.

Von Andrea Bachstein

Stacheldraht, Tränengas, Verzweiflung. Menschen, die am Ende ihrer Kräfte lautlos zusammenbrechen in den Frostnächten in den Wäldern zwischen Belarus und Polen. Im Wasser treibende Leichen ertrunkener Migranten, deren überfülltes Gummiboot und läppische Schwimmwesten sie nicht über den eiskalten Ärmelkanal tragen konnten. Der Tod ist alltäglich geworden an den Außengrenzen der EU, seitdem wieder mehr Menschen nach Europa wollen, die keine Zukunft in ihrer Heimat sehen für sich und ihre Familien.

Die Pandemie hat Flucht und Migration aus den Nachrichten verdrängt, gebremst hat sie sie nur zeitweise. 540 Seiten braucht der Weltmigrationsbericht 2022 der Internationalen Organisation für Migration (IOM), um die globale Lage abzubilden. Die Auslöser für Flucht und Migration werden nicht weniger, schon wegen des Klimawandels. Für 2022 erwartet das UN-Flüchtlingswerk UNHCR, dass die Zahl der Flüchtlinge die 100-Millionen-Marke übersteigt. 84 Millionen waren es Mitte 2021, davon 51 Millionen innerhalb der Grenzen ihrer Länder Vertriebene.

133 000 beantragten im ersten Halbjahr 2021 Asyl in Deutschland

Migration und Flucht haben extrem verschiedene Erscheinungsformen, selbst schon in Europa. Da gibt es Wohlstandsmigration - aus Deutschland in die Schweiz umziehende Mediziner. Und da gibt es das Elend auf dem Mittelmeer - Tunesier, die der Wirtschaftsmisere in ihrer Heimat entkommen wollen oder Afrikaner aus Staaten südlich der Sahara, die nach Libyen gekommen sind und nun der Gewalt und Rechtlosigkeit dort zu entfliehen suchen. Es gibt 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge in der Ukraine und das relativ neue Phänomen der Boote, die von Westafrika die Kanarischen Inseln ansteuern, ungefähr 21 000 Flüchtlinge dieses Jahr.

In die Falle gelockt: von der belarussischen Regierung an die Grenze zu Polen beförderte Migranten aus dem Nahen Osten. (Foto: Leonid Scheglov/ BelTA/REUTERS)

Europa diskutiert nun über Grenzzäune, obwohl nur der kleinste Teil der Flüchtlinge tatsächlich in die EU gelangt. Im Vergleich zum Vorjahr, als die Zahlen wegen der Pandemie besonders niedrig waren, gibt es Zuwächse. Deutschland verzeichnete im ersten Halbjahr 2021 fast 42 Prozent mehr Asyl-Erstanträge, insgesamt 133 000. Über das Mittelmeer gelangten bis zum 20. Dezember 64 000 Menschen nach Italien, doppelt so viele wie 2021. Diese Fluchtroute war erneut hochgefährlich, die Migrationsorganisation IOM geht von mindestens 1300 Toten aus, am vierten Adventswochenende kamen wohl um die 160 dazu. Weltweit kostete die Suche nach einer besseren Zukunft mindestens 4500 Menschen das Leben, 900 allein zwischen Afrika und den Kanaren.

Für Afrika nennen die UN 6,5 Millionen Flüchtlinge und mehr als 22 Millionen Binnenvertriebene. Einige Länder tun sich hervor als Aufnahmestaaten, allein in Uganda sind es 1,4 Millionen Menschen. Alte und neue Konflikte wie im Südsudan, im Kongo oder in Äthiopien vertreiben die Menschen. Und der Klimawandel trifft laut der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) den Kontinent unverhältnismäßig stark und verschärft die Hungerkrise. Schon jetzt ist die Unterernährungsrate mit 21 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im Rest der Welt. Laut WMO werden bis 2030 fast 120 Millionen Bewohner Afrikas, die ohnehin unter der Armutsgrenze leben, mit zusätzlichen Dürren, Überflutungen oder extremer Hitze kämpfen müssen. Ein Fluchtgrund kommt hinzu: Laut den UN ist Afrika "zur am meisten durch Terror betroffenen Weltregion" geworden - von IS-Ablegern in West- und Zentralafrika bis zu al-Qaida im Osten. Al-Shabaab-Milizen wüten von Somalia bis Kenia und Mosambik. Im Westen ist das Dreiländereck Mali-Niger-Burkina Faso besonders heimgesucht: zwei Millionen Flüchtlinge.

Um sehr viele Menschen geht es auch in Süd- und Mittelamerika. Das Wirtschaftsdesaster hat Millionen aus Venezuela verjagt, 1,7 Millionen allein nach Kolumbien, das ihnen großzügig Flüchtlingsstatus gewährt. Zugleich ist es eines der Länder mit den meisten Binnenvertriebenen - 8,3 Millionen. In Mittelamerika, in El Salvador, Guatemala und Honduras, aber auch in Nicaragua machen sich im Jahr an die 400 000 Menschen auf, um Gewalt, Unterdrückung und Armut zu entkommen. Etwa fünf Millionen Menschen haben Mittelamerika verlassen, weitere elf Millionen Mexiko. Es liegt auf der Strecke der Migrantenkarawanen aus Mittelamerika, die in die USA streben. Dort verzeichnete man von Oktober 2020 bis vergangenen September fast 900 000 illegale Grenzübertritte, zu 85 Prozent waren es Mittelamerikaner. Die meisten werden gleich zurückgeschickt, so wird Mexiko vom Transit- auch zum Aufnahmeland, 100 000 Asylanträge wurden dort 2021 gestellt, mehr denn je.

Syrien hält weiterhin einen traurigen Rekord

In Asien und dem Pazifikraum sind laut UNHCR 9,2 Millionen Menschen auf der Flucht, davon 4,4 Millionen, die im Ausland Aufnahme und Asyl suchen, und 3,3 Millionen intern Vertriebene. Die Machtübernahme der Taliban und die nun einsetzende Versorgungskrise in Afghanistan lassen die Welternährungsorganisation FAO fürchten, dass fast 23 Millionen Menschen betroffen sein könnten, 14 Millionen von ihnen Kinder. Im Land selbst sind nach UNHCR-Schätzungen 700 000 Menschen vertrieben, bis zu fünf Millionen sind ins Ausland geflohen, mehr als 2,2 Millionen in Nachbarländer. Allein in Pakistan leben an die 1,5 Millionen Afghanen. Das selbst bitterarme Bangladesch wiederum bietet 900 000 aus Myanmar geflohenen Rohingya Zuflucht. In Südostasien leben ohnehin viele Migranten, fast 24 Millionen aus Ländern wie den Philippinen oder Laos. Die meisten sind Arbeitsmigranten.

Syrien im westlichen Asien hält weiterhin den traurigen globalen Flüchtlingsrekord: Rund fünf Millionen Menschen haben das Land verlassen, weitere 6,6 Millionen haben innerhalb Syriens ihre Heimat verloren; nach elf Jahren Konflikt brauchen sechs Millionen Kinder humanitäre Hilfe. Katastrophal auch die Lage an der Südspitze der Arabischen Halbinsel in Jemen, wo seit 2014 Bürgerkrieg herrscht. Von knapp 30 Millionen Einwohnern sind vier Millionen Flüchtlinge im eigenen Land. Die UN fürchten, dass Hunderttausenden Kindern der Hungertod droht, bis zu 2,3 Millionen unter fünf Jahren sind schwer unterernährt.

Doch selbst mit dem Elend lässt sich viel Geld verdienen. Überall profitieren Schleuser von der Not und dem Mangel an legalen Migrationswegen. Die Internationale Arbeitsorganisation (Ilo) schätzt, dass sie pro Jahr 150 Milliarden Dollar kassieren.

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