Flüchtlinge:Alle Kraft nach Brüssel

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Die nationale Flüchtlingshuberei in der EU muss ein Ende haben. Wenn nicht alle Mitglieder begreifen, dass ein einzelner Staat überfordert ist, wird am Ende die Gemeinschaft beschädigt werden. Diese Botschaft muss ein Flüchtlingsgipfel aussenden.

Von Stefan Kornelius

Von Innenminister Thomas de Maizière ist der Satz überliefert, dass es beim Thema Flüchtlinge nun an der Zeit sei, vom Ausnahmezustand auf den Normalbetrieb umzuschalten. Oder konkreter: die Ausnahme als Normalzustand zu begreifen. Das ist ein mutiger Satz, der wie viele Sätze der Kanzlerin oder mancher ihrer Helfer seiner Zeit voraus ist. In den Aufnahmelagern und Kommunen hat man ja nicht gerade das Gefühl, dass es sich bei mehreren Tausend Zuzüglern am Tag um einen üblichen Vorgang handelt. Von der Wahrnehmung in Slowenien oder Kroatien ganz zu schweigen.

Und dennoch steckt ein wahrer Kern in der Aussage, die auch dazu beitragen kann, der allseits grassierenden Hysterie vorzubeugen, wonach das Abendland demnächst sowieso untergehe.

Nein, das tut es nicht. Vielmehr zeigt sich doch, dass diese gewaltige Flüchtlingskatastrophe zu lindern, wenn nicht gar zu meistern sein wird, wenn sich ein paar Ideen politisch verfestigen und endlich auch umsetzen lassen. Klar ist, dass der Exodus nicht mit einem einzigen Geniestreich kontrolliert werden kann, sondern dass man in kleinen Schritten, quasi in geografischen Etappen denken muss. Da gibt es zunächst die Herkunftländer, vor allem Syrien und Afghanistan, für die inzwischen eine veritable Diplomatie in Gang gesetzt wurde mit dem Ziel, die Kriege einzudämmen.

Da gibt es zweitens die Nachbarländer der Kriegsregionen, für die bestehende Hilfsprogramme mit Leben (und Geld) gefüllt und neue Hilfen beschlossen werden müssen. Da gibt es drittens die EU-Außenstaaten, die das erste große Ziel der Fliehenden sind, weil diesseits ihrer Grenzen die Verheißung wartet: Sicherheit, Humanität, vielleicht Arbeit, zumindest Versorgung. Diese Staaten stehen in der Verantwortung, wenn die EU ihre Freizügigkeit und den Charakter als Rechtsgemeinschaft bewahren will. Dazu gehört nämlich vor allem die Sicherung der Außengrenzen - nicht deren Schließung -, und die Kontrolle über alle Menschen, die Schutz suchen.

Griechenland, Ungarn, Italien, Bulgarien, Rumänien und Kroatien sind klar überfordert mit dieser Verantwortung, weshalb sie beschlossen haben, sich blind zu stellen. Staatliche Busse oder staatlich tolerierte Schlepper fahren Flüchtlinge von A nach B mit dem Ziel D: Deutschland. Die Forderung an diese Staaten heißt nun: Die Flüchtlinge müssen aufgenommen, registriert und in Lager untergebracht werden, bevor sie von dort nach einem klaren Schlüssel in ganz Europa verteilt werden. Aufbau, Betrieb und Finanzierung dieser Lager muss Sache der gesamten EU sein.

Das Problem: Viele in der EU verweigern sich der Einsicht, dass dies ihr gemeinsames Problem ist. Es gibt Ausnahmen - etwa Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, einige wenige nationale Regierungen. Ihre Überzeugungskraft reicht aber noch nicht aus. Deshalb hat der Flüchtlingsgipfel mit - unverständlicherweise - nur zehn teilnehmenden Nationen eine so große Bedeutung.

Es ist nicht deutsches Gutmenschentum, das plötzlich alle EU-Staaten zu Solidarität zwingt. Es ist politischer Realismus: Kein Staat alleine kann diesem Ansturm Herr werden, auch Deutschland nicht. Verhielte sich die Bundesregierung wie die Staatskanzlisten in Zagreb oder Budapest, dann geriete diese Völkerwanderung außer Kontrolle, Unruhen und Brutalitäten inklusive. Europa kann diesen Flüchtlingsandrang nur gemeinsam bewältigen. Wer sich dieser Erkenntnis verweigert, schützt vielleicht kurzfristig sein Land. Langfristig schadet er sich, weil er Europa zerstört.

© SZ vom 24.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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