Film:Zur Freiheit der Kunst

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Drehbuchautorin Heide Schwochow und Sohn Christian: Geschichte ist nicht immer entweder so oder so, sie ist stattdessen oft ambivalent. (Foto: Sven Simon/imago)

Die "Deutschstunde" von Siegfried Lenz kommt ins Kino: Regisseur Christian Schwochow, der Antisemit Emil Nolde und die Freiheit der Kunst. Ein Besuch.

Von Renate Meinhof

Hell ist es hier oben, fast unterm Dach, im Seitenflügel eines alten Berliner Mietshauses. Stünde es frei, sähe man über Gärten hinweg bis zur Bösebrücke an der Bornholmer Straße, die den Wedding mit Pankow verbindet. Die Brücke, die ein Grenzübergang war, bis die Mauer fiel vor dreißig Jahren. Da waren die Schwochows schon auf dem Weg in den Westen.

Bloß nicht die Schuhe ausziehen, bitte, "so sauber ist es hier nicht", sagt Heide Schwochow und saugt einen mit warmer Stimme ins Wohnzimmer hinein, wo Kaffee auf dem Tisch steht. Und Christian ist gekommen, ihr Sohn. Sie ähneln einander, die Augen vor allem. Mutter und Sohn arbeiten seit Jahren immer wieder zusammen. Sie als Drehbuchautorin, er als Regisseur. Über die Grenzöffnung auf der Brücke an der Bornholmer Straße haben sie vor fünf Jahren einen Film gemacht, nun kommt am 3. Oktober ihre "Deutschstunde" in die Kinos, am Nationalfeiertag, ausgerechnet.

Die Schwochows haben Siegfried Lenz' Roman von 1968 neu verfilmt. Die erste Umsetzung des Buches stammt aus dem Jahr 1971. Sie war im Fernsehen ein großer Erfolg, blieb nah am Buch. Natürlich wünschen Mutter und Sohn sich, dass auch ihre "Deutschstunde" ein Erfolg wird, und der Film hätte es verdient, auch, weil er weit über das Buch hinausweist.

Wenn nur Nolde nicht dazwischen gekommen wäre, der Maler Emil Nolde, und die Berliner Ausstellung im Hamburger Bahnhof, mit all den neuen Forschungsergebnissen des Historikers Bernhard Fulda.

Sie hatten recherchiert, sie wussten viel über den Maler, aber alles konnten sie nicht wissen. Wie sehr sich Emil Noldes Antisemitismus radikalisiert hatte, wie treu er dem Nationalsozialismus blieb bis zum Ende - niemand wusste das vor dieser Ausstellung. Im April wurde sie eröffnet und dann nahezu überrannt. Angela Merkel verbannte sogleich kommentarlos die beiden Nolde-Gemälde, die in ihrem Arbeitszimmer hingen, aus dem Kanzleramt. Großer Wirbel. Wie ist das, wenn ein Film von der Forschung überholt wird?

Als der Film gedreht wurde, war Noldes Werk noch unbefleckt. Wird jetzt die Kunst verkleinert?

"Ich fand es gut, dass endlich eine öffentliche Diskussion über Nolde begonnen hat", sagt Heide Schwochow, "aber dass damit auch der Roman angezweifelt wird, das hat mich umgehauen. Es bleibt doch trotzdem eine ganz, ganz große Geschichte, die universell ist". Und ihr Sohn sagt: "Ich habe die Ausstellung erst mal gar nicht mit unserem Film zusammengebracht. Ich hab' nicht gedacht: Das macht uns den Film kaputt, nie." Doch als die Ausstellung öffnete, sagten Freunde: "Ach ihr Armen, was macht ihr nun mit Nolde?" - "Mit Nolde?", hat Heide Schwochow gefragt, "bei uns geht es gar nicht um Nolde." Einerseits ist das wahr, andererseits aber hatte Siegfried Lenz einzig Nolde und dessen Bilder vor Augen, als er seinen Roman schrieb, jedenfalls den Nolde, als der er damals bekannt war. Der Expressionist, der als "entarteter" Künstler mit einem "Malverbot" belegt wurde. Der Verfemte.

Lenz sprang an auf das "Malverbot". Die Wahrheit - selbst wenn er sie gewusst hätte - interessierte ihn nicht. So hat er, völlig absichtslos, den Mythos, an dem Emil Nolde selbst schon vorausschauend gearbeitet hatte, für die literarische Ewigkeit zementiert. Das Buch wurde ein Welterfolg.

Ein "Malverbot", das wissen wir heute, hat es nie gegeben. In Schwochows Arbeit lebt der Mythos nun weiter. Das Schreiben, das der Polizist dem Maler im Film überreicht, sieht dem Original des Briefes, den Nolde von der Reichskunstkammer bekam, verblüffend ähnlich. Ansonsten haben Mutter und Sohn alles getan, um ihren Film freizuhalten vom historischen Nolde. Nur: Ist es nicht dennoch problematisch, einen Stoff zu verfilmen, der, zugespitzt, auf einer strategischen Lüge beruht?

Es wundert ihn, dass die Kanzlerin die Bilder des Malers einfach entfernt. Ohne jeden Kommentar

"Ich muss aufpassen, weil ich so Wut spüre", sagt Christian Schwochow, "denn diese Haltung schlägt uns ja auch entgegen, und jetzt sage ich: Wer möchte mir vorschreiben, wie ich meine Kunst zu machen habe? Punkt. Es ist ein Roman, in dem es übrigens auch um Kunstfreiheit geht." Ihn regt das auf, und es wundert ihn, dass die Kanzlerin die Bilder einfach abgehängt hat, ohne das weiter zu kommentieren. Und noch mehr, dass genau das so wenig diskutiert wurde, "das ist doch so krass!" Welche Bilder würden als nächste abgehängt? "Himmelangst" sei ihm, dass sich die Geschichte wiederhole. Und dann redet er über die AfD. Die "Sehnsucht nach dem Totalitären" sei doch nicht weg.

"Ja", sagt seine Mutter, "das Gedankengut ist nicht weg." Auch darum geht es in ihrem Film. Deshalb, sagt der Sohn, "wehre ich mich dagegen, wenn man sagt: Lenz hat einen Roman über Nolde geschrieben. Damit verkleinert man die Geschichte!"

Mutter und Sohn haben die Geschichte eher vergrößert. Das hängt auch mit ihrem eigenen Leben zusammen, mit der DDR, aus der sie kurz vor dem Mauerfall ausreisten. Mit den Mechanismen von Diktaturen hat es zu tun, mit den Ambivalenzen, denen sie in "Deutschstunde", aber auch in anderen ihrer Filme nachspüren. Es hört eben nicht auf. Es lässt sie nicht los, das Erlebte. Heide Schwochow fragt: "Wie viel Diktatur steckt noch in diesem Land?"

Die Ambivalenzen. Als Christian Schwochow nach der Ausreise mit elf Jahren plötzlich in Hannover in einer Klasse saß, wollte die Lehrerin den Mitschülern erklären, woher der Christian komme, und wie es in der DDR so sei. Ein trauriges, graues Land, mit traurigen Kindern, unfreien Menschen. "Das konnte ich so nicht stehen lassen", sagt er, und so gab ein Wort das andere. Es war doch sein Leben bis dahin. Wie hätte er es nicht verteidigen können? Am Ende habe die Lehrerin wütend gesagt: "Wenn es so schön war, dann geh' doch zurück zu deinem scheiß Honecker."

Christian Schwochow schweigt, als höre er dem fernen, nahen Satz noch einmal nach. Stille im Zimmer unterm Dach.

In Heide Schwochows Bad hängen an der Wand viele Postkarten, auch Zettel. Das Foto eines Trabis zum Beispiel, aus dessen Kühlerhaube Blumen wachsen, und auch die Kopie eines kleinen, gelblichen Formulars hängt da: "Antrag auf Ausreise aus der DDR". Ein Stück Papier, das, wenn man es ausfüllte (in Blockschrift!), über Leben entschied. Womöglich haben Mutter und Sohn auch deshalb diesen Film gemacht: Weil Ausreise keine Lösung mehr ist.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir die Brücke im Verlauf der Bornholmer Straße etwas ungenau "Bornholmer Brücke" genannt. Richtig heißt sie "Bösebrücke".

© SZ vom 25.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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