Fiktion und Realität:Rettungstötung - Schuld und Unschuld

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Der Bielefelder Rechtsgelehrte Wolfgang Schild zerpflückt Ferdinand von Schirachs "Terror". Er tut das nicht als Kritikaster, sondern als Verteidiger eines moralischen Begriffs des Rechts.

Von Heribert Prantl

Juristisch betrachtet ist dieses Theaterstück "eine gewaltige Fehlleistung": Wolfgang Schild, Professor für Strafrecht, Strafrechtsgeschichte und Rechtsphilosophie, stellt das nicht nur glasklar fest, er begründet das auch glasklar und überaus verständlich. In seiner kleinen Schrift, auf knapp 70 dichten Seiten, zerrupft der Bielefelder Rechtsgelehrte also Ferdinand von Schirachs "Terror". Schild tut das nicht überheblich, sondern sachlich, informativ und präzise. Schild zeigt die Fehler in den Rechtsbelehrungen des Vorsitzenden Richters, er zeigt die Widersprüchlichkeiten im Plädoyer der Staatsanwältin und im Plädoyer des Verteidigers.

Schild wundert sich über Schirachs argumentatives Durcheinander. Er wundert sich darüber, dass Schirach zentrale strafrechtliche Probleme gar nicht anspricht. Und er wundert sich darüber, dass Schirach, immerhin Strafverteidiger von Beruf, in seinem Stück zwischen Unrecht und Schuld nicht unterscheidet. Die dramaturgischen Qualitäten des Theaterstückes weiß der Strafrechtler Schild durchaus zu würdigen, auch dessen "sehr starke Intensität". Aber, so Schilds Fazit: Eine nicht so verwirrende Rechtsbelehrung hätte nicht geschadet, "auch nicht allzu viel an Spannung weggenommen, vielleicht sogar unnötige Irritationen nicht hervorgerufen."

Schöne Aussicht: Der fiktive Gerichtssaal steht nahe beim Reichstag. Nach dem Film sprachen 87 Prozent der Zuschauer den Angeklagten frei. (Foto: ARD Degeto/Moovie GmbH/Julia Terjung)

Kein Wort gibt es im gesamten Theaterstück (es erregte kürzlich in seiner Fernsehfassung Aufsehen) dazu, dass der Abschuss des von einem Terroristen entführten Verkehrsflugzeugs eine rechtswidrige Straftat darstellen, aber gleichwohl entschuldigt und daher straffrei sein kann. Das wurde den "Schöffen" (die bei Schirach im Widerspruch zum deutschen Gerichtssystem, orientiert offenbar am US-Jury-System, ohne die Beteiligung von Berufsrichtern entscheiden) gar nicht mitgeteilt. Schirach stellt als Frage nur die: Ob der Abschuss als rechtswidrig oder als gerechtfertigt beurteilt werden muss. Nur diese Frage lässt Schirach von den Zuschauern als "Schöffen" beantworten. Er zeigt ihnen also nicht die Möglichkeiten auf, die das Strafrecht für diesen Fall kennt. Er tut so, als sei das Recht in den Fällen der "Rettungstötung" nicht in der Lage, die Probleme nachvollziehbar zu regeln. Dass es einen Freispruch für eine rechtswidrige Tat geben kann - bei Schirach kommt das nicht vor.

Schirach diskreditiert das geltende Recht als ein scheiterndes, als ein zur Lösung nicht fähiges Recht. Sein Stück wird, ob absichtlich oder nicht, zu einem Plädoyer dafür, sich in Extremsituationen über das Recht hinwegzusetzen.

Der Abschuss hätte nicht als Mord, sondern nur als Totschlag angeklagt werden dürfen

Dem widerspricht Wolfgang Schild in beredter Weise. Er tut dies, indem er die Denkfehler in den Plädoyers von Anklage und Verteidigung herausarbeitet und darlegt, wie bei der Belehrung der Zuschauer-Schöffen durch den Vorsitzenden Richter Unverständlichkeit und Fehlerhaftigkeit ineinander übergehen. Schild tut das nicht als juristischer Kritikaster, sondern weil er ein Grundanliegen hat: "Nicht Recht und Moral sind zu trennen, sondern es ist ein moralischer Begriff des Rechts zu entwickeln, der deshalb auch die Bürger eines Gemeinwesens - das sich die Verfassung gibt - zu binden vermag, weil es auch legitim ist." Schirachs Staatsanwältin kommt in ihrem philosophisch angehauchten Plädoyer (in dem sie die strikte Trennung von Recht und Moral fordert) auf anderem Weg zu diesem Ergebnis, nämlich indem sie verlangt, sich auf das "Wesen des Rechtsstaats" zu besinnen.

Schild beantwortet in seiner Schrift Fragen, die sich viele Zuschauer nach dem Theaterstück gestellt haben. Was ist dem Verteidiger entgegenzuhalten, der über die Prinzipienethik von Kant gespottet hat? Kein Prinzip der Welt, polemisierte der Verteidiger, könne wichtiger sein, als 70 000 Menschen zu retten. Schild hält ihm entgegen, dass er damit ja selbst für ein Prinzip eintrete, nämlich das Prinzip des Vorrangs des vermeintlich größeren Wertes gegenüber dem geringeren, also für die "Idee, das kleinere Übel vorzuziehen".

Man lernt bei Schild, warum der Abschuss nicht als Mord, sondern nur als Totschlag angeklagt hätte werden dürfen; warum der Luft-Luft-Lenkflugkörper, mit dem die entführte Maschine vom Angeklagten Lars Koch abgeschossen wurde, kein gemeingefährliches Mittel darstellte (also das Mordmerkmal nicht erfüllt ist). Man lernt, warum das im Theaterstück immer wieder zitierte Karlsruher Urteil zur Verfassungswidrigkeit eines Flugzeug-Abschussgesetzes mit der Frage, ob Lars Koch sich strafbar gemacht hat, gar nichts zu tun hat. Man lernt bei Schild auch, was es mit dem "Verbotsirrtum" auf sich hat, der für die Beurteilung des Handelns des Angeklagten wichtig ist. Unvermeidbarer Verbotsirrtum schließt strafrechtliche Schuld aus, beim vermeidbaren Verbotsirrtum kann die Strafe gemildert werden.

Zu Theater- und Konzertaufführungen gibt es Programmhefte, in denen, nicht selten auf ambitionierte und blasierte Weise, Handlung oder Musik erklärt werden. Wolfgangs Schilds Schrift über die Rettungstötung und ihre juristischen Probleme ist der Idealfall eines Programmheftes. Viele Fragen, die in Leserbriefen erregt diskutiert wurden, finden dort eine Antwort. So klug kann Rechtswissenschaft sein.

© SZ vom 07.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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