Extremisten-Szene:Erblast des Diktators

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Der Verdächtige stammt aus Tunesien. Immer wieder fallen Männer von dort als Dschihadisten auf. Das hat auch mit der Vergangenheit zu tun.

Von Moritz Baumstieger

Ließe sich ein ganzes Land zum Psychologen schicken, im Falle Tunesiens würde die Diagnose wohl dissoziative Identitätsstörung lauten. Das Land trägt im Verhältnis zu Islam und Islamismus Züge dessen, was im Volksmund als Schizophrenie bezeichnet wird, als gespaltene Persönlichkeit. Die große Mehrheit der Tunesier lebt ihren Glauben moderat. Selbstbewusste Frauen mit und häufig auch ohne Kopftuch prägen in den Großstädten das öffentliche Leben, in den Küstenstädten orientiert man sich nicht nur der Touristen wegen an mediterraner Lebensart. Die Bande zum nur 150 Kilometer entfernten Sizilien waren früher oft enger als die nach Mekka.

Das Parlament macht von sich reden, wenn es Musliminnen die Heirat mit Nichtmuslimen gestattet und Ungleichheiten zwischen Mann und Frau in Erbfragen hinwegfegt. Im Mutterland des Arabischen Frühlings hat sogar die aus islamistischen Bewegungen entstandene Ennahda-Partei beschlossen, Religion und Politik zu trennen. Ihr Vorsitzender Rachid Ghannouchi nannte Homosexualität in einem Interview eine "Privatsache". Einerseits.

Nach der Revolution von 2011 konnten salafistische Prediger frei agieren

Andererseits fällt der Name Tunesien schnell, wenn Experten über militanten Islamismus sprechen - schon alleine, weil das Land mit gerade mal elf Millionen Einwohnern die größte Fraktion Ausländer bei der Terrormiliz IS stellte: Nach Schätzungen der UN sollen 5500 junge Männer und Frauen nach Syrien und Irak ausgereist sein. Und noch bevor der in Europa radikalisierte Tunesier Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt, das Land im Bewusstsein der Deutschen mit dem Terror verknüpfte, durchlebte Tunesien selbst eine Welle der Gewalt: Attentäter schlachteten Touristen im Bardo-Museum in Tunis ab und im Marhaba-Hotel bei Sousse. Und die Stadt Ben Guerdane an der Grenze zum Bürgerkriegsland Libyen wurde von IS-Kämpfern überrannt.

Die Saat für den Terror wurde in der Zeit des 2011 gestürzten Dikators Ben Ali ausgebracht: Sein säkulares Regime drängte jene in den Untergrund, die im Islam eine Lösung der Probleme sahen, in vielen Fällen war Radikalisierung die Folge. Nach der Revolution von 2011 konnten salafistische Prediger frei agieren: Sie machten sich in Provinzmoscheen breit, vor vielen Städten stand plötzlich ein Missionszelt. Strenggläubige bis extremistische Äußerungen wurden mit den grauenerregenden Bildern unterlegt, die bereits damals aus Syrien kamen. Und mit dem Aufruf, den dort bedrängten Glaubensbrüdern und -schwestern beizustehen.

Die damaligen Regierungen schritten zunächst nicht ein, aus einer Mischung aus Überforderung und Naivität. Der derzeit regierenden Koalition aus der säkularen Nidaa-Tounes- und der Ennahda-Partei dagegen bescheinigen Beobachter, mit starkem Willen gegen Extremismus vorzugehen: 2015 wurde die nationale Sicherheitsstrategie grundlegend überarbeitet, im Jahr darauf eine neue Anti-Terror-Kommission eingerichtet, in der sich die lange getrennt agierenden Vertreter von Sicherheitskräften, Geheimdiensten, Ministerien und Behörden besser vernetzen sollen. Die Ausgaben für innere Sicherheit waren schon 2016 mit etwa 20 Prozent des Staatshaushalts fast doppelt so hoch wie zu Zeiten Ben Alis. Doch der Ertrag lässt weiter auf sich warten. Moritz Baumstieger

© SZ vom 21.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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