Extremismus I:In der Dunkelwelt

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Die Wissenschaftlerin Julia Ebner hat undercover recherchiert, wie Online-Obskuranten ihre Anhänger rekrutieren. Ihr Erkenntnisinteresse: Was ist der soziale Kitt, der solche Leute zusammenhält?

Von Max Muth

Es gibt eine Überlegung, die sich als Aufmerksamkeitsdilemma der Extremismus-Berichterstattung bezeichnen ließe: Durchgeknallte Gruppen, die sich in dunklen Ecken des Netzes gegenseitig ihre Verschwörungstheorien bestätigen und Möchtegern-Neonazis, die auf Servern einer ehemaligen Gaming-Plattform über Einflusskampagnen fabulieren, lässt man eigentlich am besten in Ruhe. Zumindest bis sie die Größe erreicht haben, die es unmöglich macht, sie zu ignorieren - oder bis sie die Schwelle vom Reden zum Handeln überschritten haben. Erst dann sollten Medien ihnen ihre volle Aufmerksamkeit zuwenden und ihre Taktiken und Strategien offenbaren.

Im Prinzip teilt auch die Extremismus-Forscherin Julia Ebner diese Ansicht. Dass sie diese Regel für ihr Buch "Radikalisierungsmaschinen. Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren" ignoriert hat, liegt an ihrem speziellen Erkenntnisinteresse. Ebner war durch ihre bisherigen Recherchen vor allem in islamistischen Netzwerken aufgefallen, dass die menschliche Komponente der Extremismus-Forschung oft zu kurz kommt. Was ist der soziale Kitt, der Extremisten aller Art zusammenhält, und der so stark ist, dass einige letztlich auch bereit sind, die Schwelle vom Reden zum Handeln zu überschreiten. Durch eine nachträgliche Analyse von Chatprotokollen lasse sich zwar zum Beispiel feststellen, dass sich die Sprache der Nutzer nach den ersten Schritten hin zur Radikalisierung nach einiger Zeit verändert. Doch die sozialen Mechanismen dahinter bleiben durch derartige Analysen im Dunkeln. Die Frage nach dem "Wie" lässt sich nur im Nahkampf beantworten. Deshalb die Recherche, deswegen monatelange Vorbereitung, das Anlegen falscher Social-Media-Accounts, deswegen die falschen Namen, die erfundene Biografie, die Nächte vor dem Computer.

Für ihr mittlerweile zweites Buch hat die Expertin rund zehn mehr oder minder obskure Gruppen unterwandert, von den "Trad Wives", einem antifeministischen Forum von Frauen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als in einem streng patriarchalen Lebensmodell aufzugehen, über weiße Nationalisten in den USA, bis zu den Terrorschwestern, einer Gruppe von Unterstützerinnen des islamischen Staats. Die Auswahl der Netzwerke wurde dabei laut Ebner auch davon bestimmt, wie gut die Einlasskontrollen der Gruppen waren. Um in einigen rechten Netzwerken in den USA aufgenommen zu werden, müssen Aspiranten etwa nachweisen, dass sie sich bereits an Aktionen der Gruppe beteiligt haben, für Ebner eine moralische rote Linie, die sie nicht überschreiten wollte.

Eine Neonazi-Trollarmee macht Gegner im Netz gezielt mundtot

Auffällig ist laut Ebner, wie professionell Extremisten neue Technologien für sich nutzen. Für die Kommunikation verwenden sie meist geschlossene Gruppen auf den Plattformen Discord und Telegram. Telegram war ursprünglich als verschlüsselte Whatsapp-Alternative gestartet, Discord als eine Plattform für Computerspieler. Heute organisieren sich in Telegram-Gruppen IS-Sympathisanten, Neonazis, aber auch Demonstranten der Demokratiebewegung in Hong Kong. Auf Discord organisiert etwa die Neonazi-Trollarmee "Reconquista Germanica" ihre Kampagnen in den sozialen Medien, wo sie politische Gegner gezielt mundtot macht oder den gesellschaftlichen Diskurs nach rechts verschiebt. Mit ihren Aktionen, so Ebner, hätte die wenige Tausend Mitglieder starke Truppe den Kurs von Kampagnen der AfD und den allgemeinen Netzdiskurs vor der Bundestagswahl 2017 zumindest mitbestimmt.

Zur Extremismus-Forschung gekommen ist die 28-jährige Österreicherin eher zufällig, wie sie sagt. Ursprünglich studierte sie Philosophie und politische Ökonomie in Wien und Peking. In die Zeit eines Praktikums bei der Quilliam-Foundation in London fielen auch die Terroranschläge in Paris. Für Ebner, die auch ein halbes Jahr in Frankreich studiert hatte, ein prägendes Ereignis. Die Quilliam-Foundation, eine von Aussteigern aus der islamistischen Szene gegründete Stiftung, war nach den Anschlägen noch mehr als zuvor ein gefragter Ansprechpartner für Regierungen im Kampf gegen islamistischen Terrorismus. Nach Abschluss ihres Praktikums bekam Ebner eine wissenschaftliche Stelle bei der Stiftung angeboten. Die Umstände ihrer Entlassung hat sie ebenfalls in "Radikalisierungsmaschinen" verarbeitet. Nach einem von ihr mit verfassten Artikel für den Guardian über internationale rechtsextreme Netzwerke entfachte der rechte Influencer Tommy Robinson einen Shitstorm und übte mithilfe zahlreicher Mitstreiter im Netz Druck auf die Stiftung aus. Die forderte daraufhin eine öffentliche Entschuldigung von Ebner, was die damals 26-Jährige ablehnte.

Julia Ebner: Radikalisierungsmaschinen. Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren. Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019. 334 Seiten, 18 Euro. (Foto: N/A)

Durch die Episode erfuhr Ebner am eigenen Leib, was für eine Wucht gesteuerte Kampagnen von Radikalen im Netz entfalten können. Mittlerweile forscht sie für das Institute for Strategic Dialogue, das zwar ebenfalls in London sitzt, aber weltweit über Extremismus forscht. In ihrer Funktion dort war Ebner etwa an einer Studie über Einflusskampagnen rund um die bayerische Landtagswahl 2018 beteiligt.

Den Anspruch, das verbindende menschliche Element der Extremisten-Gruppen herauszuarbeiten, erfüllt "Radikalisierungsmaschinen" bestenfalls teilweise. Doch das ist auch nicht notwendig, denn seine besten Momente hat das Buch nicht in der Analyse, sondern dort, wo Ebner den Leser mitnimmt in die obskuren Halbwelten im Netz, in die normale Menschen aus guten Gründen nie hinabsteigen.

Julia Ebner tut das, was sie tut, damit es die anderen nicht tun müssen - und das macht "Radikalisierungsmaschinen" zu einer lohnenden Lektüre.

© SZ vom 30.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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