Sie sieht ernst in die Kamera, trägt ein schwarzes Kopftuch. Nummer 0000524 vermisst ihren Sohn. Daneben ein junges Mädchen, schwarze Rastafrisur, Nummer 0000315, es sucht nach seinem Vater: "I'm looking for my father" heißt es in der Sprechblase, die aus seinem Mund kommt. Oder der junge Bursche, Fußballerfrisur, kariertes Hemd, Blick ins Leere: Er hat seine gesamte Familie irgendwo verloren.
Zu sehen sind diese und 700 weitere Bilder auf einer Suchdienst-Seite des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Diese soll helfen, ein großes Rätsel zu lösen: Das Rätsel der verschwundenen Flüchtlingskinder in Deutschland. Mal sind es 5000, mal mehr, mal weniger. Die Zahlen alarmieren, lassen Raum für Ängste, Spekulationen, Unsicherheiten. Die Lage ist unübersichtlich, sicher ist nur eines: Die Zahlen sind nicht belastbar, denn oft kommt es zu Vielfachzählungen.
Anfang Februar hatte eine Mitteilung der europäischen Polizeibehörde Europol Bestürzung ausgelöst. Mindestens 10 000 alleinreisende Flüchtlingskinder seien in den vergangenen 18 bis 24 Monaten nach ihrer Ankunft in Europa spurlos verschwunden. "Dies bedeutet nicht, dass allen etwas passiert ist. Ein Teil der Kinder könnte sich tatsächlich mittlerweile bei Verwandten aufhalten", fügte der Europol-Sprecher an. Diese Kinder könnten aber Opfer von Missbrauch werden, sagte er und appellierte: "Wir bitten unsere Kollegen in Europa, sich darüber im Klaren zu sein, dass dies passieren könnte."
4749 minderjährige Flüchtlinge, von denen niemand weiß, wo sie gerade sind
Mehrere Europa-Abgeordnete fordern nun Aufklärung. In einem Brief an den Rat der 28 Mitgliedstaaten weisen sie darauf hin, dass die Verschollenen möglicherweise Opfer von paneuropäischen Banden würden, die sie für Sexarbeit, Sklaverei oder Organhandel missbrauchen.
Beim deutschen Bundeskriminalamt (BKA) waren Anfang Januar 4749 minderjährige Flüchtlinge registriert, von denen niemand weiß, wo sie gerade sind. 431 von ihnen waren jünger als 13 Jahre. Die Statistik wird vierteljährlich erstellt. Sie unterliegt starken Schwankungen, manchmal mit 200 bis 300 Fällen pro Tag. Außerdem schränkt die Behörde ausdrücklich ein, dass hier auch Mehrfachregistrierungen von Flüchtlingskindern Unklarheit erzeugen. Man könne nicht ausschließen, dass bei der hohen Vermisstenzahl auch Straftaten eine Rolle spielten, so eine BKA-Sprecherin: "Bislang aber liegen keine Hinweise vor, wonach kriminelle Banden Flüchtlingskinder versklaven."
Schon seit dem Sommer befürchten Hilfsorganisationen, dass Verbrecher das Chaos rund um die Aufnahmestellen und Asylunterkünfte ausnutzen könnten. Der Fall des vierjährigen Flüchtlingsjungen Mohamed, den ein 32-jähriger Mann am 1. Oktober vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) entführt, später missbraucht und umgebracht hatte, fachte die Befürchtungen noch mehr an. Mehrere Wochen war der Junge vermisst, bevor seine Leiche gefunden wurde. In dieser Zeit wucherten Spekulationen, dies sei und bleibe möglicherweise kein Einzelfall.