Europäischer Gerichtshof:Das Recht auf Konfrontation

Lesezeit: 1 min

Angeklagte dürfen zentrale Zeugen ihres Strafprozesses befragen. Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren reichen nicht.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das Recht von Angeklagten gestärkt, die entscheidenden Zeugen ihres Strafprozesses mit ihren Fragen zu konfrontieren. Der Gerichtshof beanstandete ein Urteil des Landgerichts Göttingen gegen einen Georgier, der wegen schweren Raubes zu neuneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Dem Urteil zufolge hatte er zwei Prostituierte in ihrer Wohnung ausgeraubt. Das Urteil beruhte auf einer ganzen Reihe von Beweisen: Mehrere Zeugen waren befragt worden, zudem wurde der Angeklagte durch eine Telefonüberwachung sowie GPS-Daten aus seinem Wagen belastet. Die einzigen Augenzeuginnen - die beiden Opfer - hatten allerdings im Prozess selbst nicht ausgesagt, sondern waren lediglich während des Ermittlungsverfahrens durch Polizeibeamte und den Ermittlungsrichter befragt worden - ohne dass der Angeklagte oder sein Anwalt Gelegenheit gehabt hätten, sie mit ihren Fragen zu konfrontieren. Als der Prozess begann, waren sie bereits nach Litauen zurückgekehrt und dort, trotz verschiedener Bemühungen des Landgerichts, nicht mehr für eine Aussage verfügbar.

Aus Sicht des Menschenrechtsgerichts liegt darin ein Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention. Zwar ist es aus Sicht des Gerichts durchaus möglich, in solchen Fällen in der Hauptverhandlung auf zentrale Zeugen zu verzichten und stattdessen deren Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren zu verlesen. Das gelte allerdings nur, wenn ausreichende Anstrengungen unternommen worden seien, dieses Defizit durch andere Maßnahmen auszugleichen. Die Große Kammer des Gerichtshofs rügte, die deutsche Justiz hätte dem Angeklagten bereits im Ermittlungsverfahren einen Verteidiger an die Seite stellen müssen, weil von vornherein das Risiko bestanden habe, dass die beiden Frauen das Land verlassen würden. Dadurch sei das Recht des Angeklagten verletzt worden, die Aussagen der entscheidenden Zeugen in der direkten Konfrontation zu hinterfragen. Konsequenz könnte sein, dass das Verfahren neu aufgerollt werden muss: Urteile des Gerichtshofs für Menschenrechte berechtigen den Angeklagten, eine Wiederaufnahme zu beantragen.

Das Urteil des Gerichtshofs war intern umstritten, mehrere Richter haben abweichende Meinungen dazu formuliert. Es be-deutet letztlich eine Aufwertung der Rechte von Angeklagten im Ermittlungsverfahren. Dies ist eine entscheidende Phase eines Strafprozesses, weil dort oft die Weichen für das Verfahren gestellt werden. Aus diesem Grund hat vor kurzem eine Expertenkommission des Bundesjustizministeriums vorgeschlagen, die Verteidigerrechte im Ermittlungsverfahren aufzuwerten. Dieser Vorschlag dürfte durch das Straßburger Urteil zusätzlichen Rückenwind erhalten.

© SZ vom 16.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: