Europäische Union:Von Lücken und Lasten

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Auf Europa kommen schwere Zeiten zu: Mit dem Brexit fallen jährlich Milliarden Euro weg, außerdem bekommt die EU weitere, teure Aufgaben. Brüssel denkt nun darüber nach, Fördertöpfe an neue Bedingungen zu knüpfen.

Von Daniel Brössler, Brüssel

Pro-europäische Aktivisten in Warschau protestieren gegen ihre rechtsnationale Regierung. Polens Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit könnten bald mit dem Entzug von EU-Fördermitteln bestraft werden. (Foto: Janek Skarzynski/AFP)

Die Rechnung enthält noch einige Unbekannte, aber im Großen und Ganzen fühlt EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger sich in der Lage, sie aufzumachen. Durch den Austritt Großbritanniens würden im EU-Haushalt "strukturell netto zehn bis elf Milliarden Euro Jahr für Jahr" fehlen, sagt er. Soeben hat die EU-Kommission über ein Papier zur "Zukunft der EU-Finanzen" beraten. Nun will Oettinger die europäische Öffentlichkeit darauf vorbereiten, was auf sie zukommt. Da ist zum einen die Lücke, die durch den Brexit in den bislang jährlich etwa 150 Milliarden Euro schweren EU-Haushalt gerissen wird. Es tue sich, warnt Oettinger, aber noch eine zweite Lücke auf. Sie ergebe sich aus "neuen Aufgaben wie Verteidigung und Migration". Zusammengefasst: Die EU verliert erhebliche Einnahmen, braucht aber spürbar mehr Geld.

Haushaltskommissar Oettinger will einen Kahlschlag in der Landwirtschaft vermeiden

Was das bedeutet oder bedeuten könnte, ist zumindest in Grundzügen dem 40-seitigen "Reflexionspapier" zu entnehmen, das die EU-Kommission als Diskussionsbeitrag darüber verstanden wissen will, wie die Union sich künftig finanzieren und einen "europäischen Mehrwert" schaffen soll. Oettinger fasst das in der Frage zusammen: "Was ist den Mitgliedstaaten Europa wert?" Die Antwort werden sie schon recht bald geben müssen. Kommendes Frühjahr will Oettinger seinen Vorschlag für den "mehrjährigen Finanzrahmen" für die siebenjährige Periode nach 2020 vorlegen. In den Verhandlungen darüber geht es dann um alles: Kann etwas weggeschaufelt werden vom Riesenbatzen, der bislang der Landwirtschaft zugutekommt? Wie viel Geld darf in einen so umkämpften Sektor wie die Rüstung fließen? Und zahlen Länder wie Polen einen Preis, wenn sie Rechtsstaatlichkeit abbauen und keine Flüchtlinge ins Land lassen?

Es bestehe "ein klarer Zusammenhang zwischen der Rechtsstaatlichkeit einerseits und einer effizienten Durchführung der aus dem EU-Haushalt geförderten Investitionen aus privater oder öffentlicher Hand andererseits", heißt es im Papier der Kommission. Das klingt scharf, nimmt Forderungen nicht zuletzt aus Deutschland auf, lässt aber offen, wie auf Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit reagiert werden könnte. Oettinger deutet an, dass die Frage in den schon jetzt jährlich verfassten Länderberichten und den daraus resultierenden Empfehlungen eine stärkere Rolle spielen könnte. Diese sollten "noch präziser" werden. Den Streit über Flüchtlingsquoten will Oettinger offenkundig lieber nicht mit Haushaltsfragen vermengen. Corina Creţu, aus Rumänien stammende EU-Kommissarin für Regionalpolitik, wirft immerhin ein: "Solidarität ist keine Einbahnstraße."

Der neue Finanzrahmen bedarf am Ende der Zustimmung aller EU-Staaten, was den Einbau von Strafmechanismen nicht wahrscheinlicher macht - und ganz allgemein die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner erzwingt. Er werde einen "ehrgeizigen" Rahmen vorlegen, sagt Oettinger, aber er sei eben auch Realist. Die Brexit-Lücke will er teils durch Einsparungen, teils durch neue Einnahmen schließen. Neue Einnahmen werden auch für die neuen Aufgaben benötigt, obwohl Oettinger auch Umschichtungen anstrebt. "Jeder muss über Kürzungen nachdenken", sagt er. Dabei müsse es aber gerecht zugehen. Einen "Kahlschlag" bei den traditionell großen Ausgabeblöcken lehnt Oettinger ab. Da geht es zuallererst um die Landwirtschaft, in die 39 Prozent der EU-Mittel fließen. An einer "Modernisierung und Vereinfachung" der gemeinsamen Agrarpolitik werde gearbeitet, heißt es im Papier der Kommission, für eine "weitere Wirkungssteigerung" gebe es noch Spielraum. Als "erwägenswerte Option" wird die Einführung einer nationalen Kofinanzierung genannt.

Auch an der Kohäsionspolitik, die darauf abzielt, die großen Unterschiede in den Lebensverhältnissen in der EU abzubauen, will die EU-Kommission nichts Grundsätzliches ändern. Etwa 34 Prozent der EU-Mittel fließen bislang in diesen Bereich. Die Ergebnisse der Kohäsionspolitik seien "im Allgemeinen" positiv, doch in mehreren Bereichen seien Reformen erforderlich. So müsse etwa flexibler auf unerwartete Entwicklungen reagiert werden können.

Brisant ist, wo zusätzliche Einnahmen herkommen könnten. Die EU-Staaten zahlen entsprechend ihrer Wirtschaftskraft in den EU-Haushalt ein. Das macht 73 Prozent der Einnahmen aus. Weitere 13 Prozent fließen direkt aus Zöllen in die EU-Kasse und noch einmal 13 Prozent aus einem Anteil an den Mehrwertsteuer-Einnahmen. Nach neuen Quellen wird schon länger gesucht. Warum nicht, fragt Oettinger, die Einnahmen aus dem ohnehin europäisch geregelten Emissionshandel direkt der EU zugutekommen lassen? Aber auch das ist erst einmal nur eine Idee.

© SZ vom 29.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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