Europäische Union:Um Optimismus bemüht

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EU-Kommissionspräsident Juncker präsentiert fünf Szenarien für die Zukunft der europäischen Gemeinschaft. Alles scheint vorstellbar zu sein - nur die Auflösung der Union nicht.

Von Daniel Brössler und Thomas Kirchner, Brüssel

Unter Marketing-Gesichtspunkten ist die Sache schwierig. In wenigen Wochen wird Großbritannien seinen Austritt aus der Europäischen Union erklären, da ist es nicht einfach, Optimismus zu verbreiten. Jean-Claude Juncker steht am Mittwoch am Pult im Europäischen Parlament in Brüssel und versucht es trotzdem. Der Brexit werde die EU "in ihrer Entwicklung nicht aufhalten können", verkündet er. Mitgebracht hat der Kommissionspräsident ein Weißbuch mit einer Titelseite, auf der blaue Vögelchen in Richtung Zukunft flattern. Die eine, große Vision enthält das 29 Seiten starke Heftchen aber nicht, vielmehr fünf mögliche Szenarien bis 2025.

Am 25. März werden die Staats- und Regierungschefs in Rom 60 Jahre vereintes Europa feiern und in einer Deklaration ihre Vision der Zukunft präsentieren. Mit seinen fünf Szenarien, die vom "Weiter so" bis zu einem Beinahe-Bundesstaat reichen, will Juncker eine Diskussionsgrundlage liefern. Nur ein Szenario kommt gar nicht vor: die Auflösung der Union. Einem Abbruch-Unternehmen will Juncker nicht vorstehen. In der Kommission weiß man, dass nicht alle Hauptstädte dankbar sind für die Anregung. Umso forscher versucht man, das Papier als wegweisend zu verkaufen. Von der "Geburtsurkunde für die EU zu 27" ist sogar die Rede. Ein Überblick.

Szenario eins: Weiter so wie bisher

Es geht schrittweise nach vorn, in allen Politikbereichen: Euro, Migration, Sicherheit, Verteidigung. Aber es ist, wie bisher, ein mühsames Unterfangen. Die EU-Kommission reguliert weiterhin nur so viel, wie unbedingt nötig ist. Die Einheit der 27 bleibt bestehen, könnte aber "bei größeren Streitfragen" wackeln. Eine positive Entwicklung hängt davon ab, wie viel guten Willen zur Zusammenarbeit die Mitgliedstaaten aufbringen können. Der Entscheidungsprozess bliebe so schwierig ("komplex") wie bisher.

Szenario zwei: Fokus auf den Binnenmarkt

Dies ist das Minimal-Szenario, das nah an den Wünschen der Euro-Skeptiker liegt. Die EU würde sich beschränken und sich auf den Binnenmarkt konzentrieren, der zu ihrem eigentlichen Daseinsgrund würde. In vielen Politikbereichen könnte sie nicht mit einer Stimme sprechen. Das gilt etwa beim Klimaschutz, der Bekämpfung der Steuerhinterziehung oder in Handelsfragen. Auf diese Weise würde die EU nach Junckers Einschätzung international an Bedeutung verlieren.

Klein-Britannien in Brüssel: Das Modell des britischen Parlaments in Mini-Europa, einem Vergnügungspark der belgischen Hauptstadt. (Foto: Olivier Hoslet/dpa)

Szenario drei: Wer mehr will, tut mehr

Staaten, die enger zusammenarbeiten wollen als bisher im Rahmen der EU, sollen Koalitionen der Willigen bilden. Beim Euro oder im Schengen-Rahmen geschieht dies schon und könnte auf die Bereiche Verteidigung, innere Sicherheit, Steuern und soziale Angelegenheiten ausgeweitet werden. Denkbar wäre, dass man gemeinsame Polizeitruppen aufstellt, die grenzüberschreitend ermitteln würden; dass eine Gruppe von Staaten das Arbeitsrecht vollständig harmonisiert; dass ein echter Austausch von Sicherheitsdaten in Gang kommt. Oder dass mehrere Staaten gemeinsam eine Drohne zu militärischen oder humanitären Zwecken nutzen. Andere Staaten könnten nachziehen. Die Einheit der Union bliebe in diesem Szenario gewahrt, und es hört sich am ehesten nach dem "Europa der mehreren Geschwindigkeiten" an, das Bundeskanzlerin Angela Merkel propagiert. Juncker vermeidet diesen Begriff. Und er legt Wert darauf, dass die Richtung für alle dieselbe bleiben müsse.

Szenario vier: Weniger, aber effizienter

Statt dass einzelne Staatengruppen vorangehen, entscheidet sich die EU als ganze dafür, sich auf einige Politikbereiche besonders zu konzentrieren. In diesen Bereichen erhielte die Union dann mehr "Instrumente". Als Beispiel nennt Juncker den Abgasskandal, bei dem von der EU ein energischeres Einschreiten erwartet worden sei, Brüssel aber die entsprechenden Kompetenzen gefehlt hätten. In der Migrationspolitik könnte dies bedeuten, dass der neue Grenz- und Küstenwachschutz die Überwachung aller nationalen Grenzen übernimmt und künftig alle Asylentscheidungen nicht mehr national, sondern auf der europäischen Ebene getroffen würden. Gleichzeitig würde sich die EU aus anderen Gebieten weitgehend zurückziehen: Regionalförderung, Gesundheitsfragen, Beschäftigung oder Beihilfen-Kontrolle. Schwierig wäre es nach Ansicht Junckers, sich über die Einzelheiten zu einigen.

Szenario fünf: Viel mehr gemeinsam

Das ist die ambitionierteste Variante. Die Staaten würden verstehen, dass sie gemeinsam besser vorankommen und die Macht entsprechend teilen. Die EU würde sich verständigen auf alles, was für einen funktionierenden Euro nötig wäre, etwa eine viel umfassendere Koordinierung der nationalen Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik. Brüssel erhielte mehr Geld, um Ungleichgewichte in der wirtschaftlichen Entwicklung auszugleichen, aus dem jetzigen Rettungsfonds ESM würde ein Europäischer Währungsfonds, hinzu käme eine Verteidigungsgemeinschaft. Das Risiko: Eine solche Entwicklung könnte jene auf die Barrikaden treiben, die der EU die demokratische Legitimation absprechen und das Gefühl hätten, den nationalen Regierungen würden noch mehr Kompetenzen abgenommen.

Welches sein Lieblingsszenario ist, lässt Juncker offen, sagt aber, was er nicht will. "Meine Variante ist das nicht", sagt er zu Szenario zwei, der Beschränkung auf den Binnenmarkt. "Europa ist mehr als Macht, Markt und Geld", sagt er. Dem Modell drei, kann er "einiges abgewinnen", warnt aber, es könne kompliziert werden. In den nächsten Monaten will die Kommission Papiere präsentieren, die das Weißbuch unterfüttern. In Brüssel ist die Diskussion eröffnet. "Die verstärkte Zusammenarbeit verschiedener Gruppen von Mitgliedstaaten in bestimmten Politikbereichen könnte öfter genutzt werden", meint der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen. Alexander Graf Lambsdorff (FDP) hingegen nennt das Weißbuch "ein Sammelsurium, in dem sich alle Mitgliedstaaten mit all ihren Befindlichkeiten irgendwie wiederfinden sollen. Das reicht nicht."

© SZ vom 02.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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