Europäische Union:Macron gegen Orbán

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Die Regierungschefs der Europäischen Union beraten in Göteborg in einem ungewohnten Format über soziale Themen. Sie wollen gemeinsame Standards schaffen - doch die Kompetenzen der EU sind in diesem Politikfeld begrenzt.

Von Alexander Mühlauer, Göteborg

Viktor Orbán hebt die linke Augenbraue, schaut kurz auf, macht sich Notizen. Dann hört er wieder zu. Es dauert noch, bis er dran ist. Der ungarische Ministerpräsident sitzt in der Arbeitsgruppe 3 des EU-Sozialgipfels in Göteborg. Die Staats- und Regierungschefs sollen herausfinden, was Europa ausmacht. Sie sollen ausloten, ob es mehr ist als nur ein gemeinsamer Markt. In Orbáns Gruppe ergreift Emmanuel Macron das Wort. Eigentlich hat er drei Minuten Zeit, seine Sicht der Dinge zu erklären, aber der französische Präsident hört einfach nicht auf zu reden. Orbán muss warten.

Macron sagt ja von sich selbst, er kenne keine roten Linien, nur Horizonte. An diesem Freitag macht er eine Tour d'Horizon, an deren Ende eine Vision für ein soziales Europa steht. Macron will mehr Investitionen in Bildung, mehr soziale Sicherheit. "Une Europe qui protège." Ein Europa, das seine Bürger und Unternehmen schützt. "Wir müssen unser Sozialmodell in der Welt verteidigen", fordert Macron.

Ungarn habe ein erfolgreiches Modell, sagt Orbán. Frankreich finde nun vielleicht auch eines

Orbán hört geduldig zu. Als nächstes sind die Kollegen aus Griechenland, Belgien und Portugal dran. Dann schließlich der Premier aus Budapest. Am Anfang will Orbán erst mal eines klarmachen: "Ich bin seit zwölf Jahren Ministerpräsident." In dieser Zeit habe er unzählige Male über dieses Thema gesprochen. Er sei sicher, dass Schweden ein gutes soziales Modell für sich gefunden habe. Und ja, auch Frankreich werde wohl nun eines finden, das zum Erfolg führen könne. Nach diesem Seitenhieb auf seinen jungen Kollegen aus Paris, erklärt Orbán sein Modell. Anders als Macron spricht er nicht von einem europäischen Modell. Orbán ist stolz auf das, was er in Ungarn geschafft hat: weniger Arbeitslose, mehr Wachstum. "Das ungarische Modell ist erfolgreich", sagt er. Das Ziel sei Vollbeschäftigung und die Lösung demografischer Probleme. Nicht zu vergessen: Die Herausforderung der Migration wolle Ungarn weiter selbst lösen.

Es ist eine bemerkenswerte Runde an diesem Freitag in Göteborg. Allein schon deshalb, weil die Staats- und Regierungschefs nicht wie sonst an einem riesigen Tisch in Brüssel sitzen, sondern in kleineren Runden auch mit Gewerkschaftern, Studenten und Arbeitgebervertretern ins Gespräch kommen. Macron hätte gerne, dass es jedes Jahr einen solchen Sozialgipfel gibt. Orbán ist sich da nicht so sicher.

Nachdem die Euro-Krise einen tiefen Riss zwischen Nord- und Südeuropa hinterlassen hat, sorgt die Flüchtlingskrise für harte Auseinandersetzungen zwischen Ost und West. Umso erstaunlicher ist es, dass die Staats- und Regierungschefs in Göteborg die "Europäische Säule sozialer Rechte" proklamieren. Die Erklärung verpflichtet alle 28 EU-Staaten zu gemeinsamen Mindeststandards. Die "soziale Säule" beschreibt ein Europa der Chancengleichheit. Konkret heißt das: "angemessene Mindestlöhne"; Eltern haben "das Recht auf Freistellungs- und flexible Arbeitszeitregelungen"; Kinder wiederum "das Recht auf hochwertige, bezahlbare frühkindliche Bildung und Betreuung"; jeder hat "das Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen"; sozial Schwache haben das Recht auf "Schutz gegen Zwangsräumungen".

Von sehr vielen Rechten ist die Rede - doch einklagbar oder gar bindend sind sie nicht. Es sind vielmehr Absichtserklärungen, von denen die meisten noch in Gesetze gegossen werden müssen. Die EU-Kommission ist dazu entschlossen. Mit Vorschlägen für ein sozialeres Europa will die Behörde sich gegen die verbreitete Unzufriedenheit über "Brüssel" und den Aufstieg der Populisten stellen. Die "soziale Säule" soll Europa wappnen für die Probleme, welche die Globalisierung, die Überalterung der Gesellschaft und die Digitalisierung mit sich bringen.

Allerdings ist der Spielraum der EU in der Sozialpolitik begrenzt. Es wird die Aufgabe der Mitgliedsstaaten sein, die Grundsätze der sozialen Säule in ihren Ländern durchzusetzen. Die Erklärung dürfe "nicht einfach eine Aufzählung frommer Wünsche" bleiben, mahnt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.

Die Essenz der Debatten wird EU-Ratspräsident Donald Tusk für den nächsten EU-Gipfel in vier Wochen zusammenfassen. Orbán und Macron werden sich also bald wiedersehen. Kanzlerin Angela Merkel, die in Schweden wegen der Jamaika-Gespräche verhindert war, will dann wieder dabei sein. Auch wenn es bis dahin noch keine neue Regierung in Berlin geben sollte.

© SZ vom 18.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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