Europa:Spott und Feindbilder

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„Besorgt“ über die Entwicklungen in Ungarn und Polen: Věra Jourová, Vizepräsidentin der EU-Kommission. (Foto: Virginia Mayo/dpa)

Die EU-Europaminister sehen die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen gefährdet. In Brüssel kommt es beim Treffen zu Provokationen.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Die Justizministerin aus Budapest trug ihre Position gefasst vor. "Dieses Verfahren führt uns nirgendwohin, es basiert auf falschen Anschuldigungen und schafft nur Misstrauen unter den Mitgliedstaaten", klagte Judit Varga zu Beginn des Treffens der EU-Europaminister. Die finnische Ratspräsidentschaft hatte das Thema Verletzung von EU-Grundwerten in Ungarn und Polen erneut auf die Tagesordnung gesetzt, denn gegen beide Staaten laufen sogenannte Artikel-7-Verfahren, an deren Ende der Entzug des Stimmrechts stehen könnte - allerdings versichern sich Budapest und Warschau gegenseitig, sich zu unterstützen und zu verteidigen.

Die Position der Kritiker, die eine weitere Verschlechterung der Rechtsstaatlichkeit befürchten, brachte Europastaatsminister Michael Roth zum Ausdruck: "Wir sehen die derzeitige Lage mit Sorge." Als die problematischsten Themen nannte der SPD-Politiker die Unabhängigkeit der Justiz, die Medienfreiheit und die akademische Freiheit. Während Varga bei ihrer Ankunft nur angekündigt hatte, "bereit zu sein, um Ungarn zu verteidigen", sorgte Regierungssprecher Zoltán Kovács für einen Eklat. Er verschickte Dutzende Tweets aus der Sitzung, die hinter verschlossenen Türen stattfand, und verspottete jene Minister, die von Budapest Erklärungen verlangten. In einem seiner ersten Tweets sprach er vom "Soros-Orchester", das sich nun versammle. Der ungarischstämmige Milliardär und Holocaust-Überlebende Soros, dessen Stiftung auch Organisationen, die Flüchtlingen und Asylsuchenden helfen, finanziell unterstützt, gehört seit Jahren zu den Feindbildern von Ministerpräsident Viktor Orbán. Dessen Fidesz-Partei und die regierungsnahen Medien sprechen gern von einer Verschwörung gegen Ungarn, die vom Europaparlament und der EU-Kommission vorangetrieben werde. Seine Anklage illustrierte der Provokateur Kovács mit einem Bild des Brüsseler Ratsgebäudes, wo sich die Mitgliedstaaten versammeln. Das Foto, das später gelöscht wurde, lässt sich so interpretieren, dass andere EU-Regierungen von Soros finanziert würden. Finnlands Europaministerin Tytti Tuppurainen nannte das Verhalten "schockierend" und erteilte Ungarn nach Protesten mehrerer Delegationen eine Rüge. Sie forderte eine schriftliche Stellungnahme innerhalb von 24 Stunden.

Die harsche Reaktion Ungarns lässt sich wohl dadurch erklären, dass auch die neue EU-Kommission gewillt scheint, die Themen Rechtsstaatlichkeit und Verletzung von Grundwerten ernstzunehmen. Das machte die tschechische Liberale Věra Jourová, die dieses Portfolio künftig betreut, am Dienstag deutlich: "Wir müssen sicherstellen, dass das gegenseitige Vertrauen weiter bestehen kann." Instrumente wie der europäische Haftbefehl seien nur wirksam, wenn sich alle EU-Mitglieder darauf verlassen könnten, dass die gleichen Standards gelten. Jourová sagte, dass sie "besorgt" sei über die Entwicklungen und bald nach Ungarn und Polen reisen wolle: "Dass ich aus der Region komme, wird mir vielleicht helfen, dies zu verstehen." 2020 sollen einheitliche Rechtsstaatlichkeit-Berichte über alle EU-Staaten publiziert werden. So sollen die emotionalen und vergifteten Diskussionen versachlicht werden.

Aus Budapest kommen jedoch Nachrichten, die die Kritiker in ihrer Sorge bestätigen. Am Dienstag beschloss Fidesz mit ihrer Zweidrittelmehrheit Regeln, die die Rechte und Freiheiten der Oppositionsabgeordneten im Parlament einschränken. Das Recht auf freie Fraktionsbildung wird nahezu aufgegeben und für "störendes Verhalten" in den Parlamentssitzungen drohen drakonische Strafen. Es wird zudem künftig unmöglich sein, dass sich zwei oder mehr Fraktionen zusammenschließen. Auch dürfen sich Abgeordnete, die als Parteilose gewählt wurden, keiner Fraktion anschließen. Dies könnte dazu führen, "das Parlament als Institution für demokratische Debatten auszuhöhlen", sagte Zselyke Csaky von der Nichtregierungsorganisation Freedom House der Financial Times. Zuletzt hatte Ungarns Opposition einige Erfolge gefeiert mit Kandidaten, die parteiunabhängig sind oder kleinen Parteien angehören. Dazu gehört Gergely Karácsony, der neue Bürgermeister Budapests. Unabhängige Analysten wie Peter Krekó sehen die Beschlüsse als "Rache" und Beleg für die Angst im Orbán-Lager, dass die Opposition bis zur nächsten Wahl 2022 noch stärker werden könnte.

© SZ vom 11.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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